Battlefield 1 könnte dem Ersten Weltkrieg tatsächlich gerecht werden

22.07.2016 - 17:30 Uhr
Battlefield 1
Electronic Arts
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Was passiert, wenn sich ein AAA-Spiel wie Battlefield 1 den Ersten Weltkrieg zum Schauplatz macht? Muss daraus ein Anti-Kriegsspiel werden? Stehen Entwickler in irgendeiner Verantwortung? Passiert eigentlich überhaupt etwas — oder ist es lediglich ein Tapetenwechsel im Spielzimmer? Dom sucht nach Antworten.

Matsch unter den Füßen. Starker Regen. Heisere Schreie. Ein Panzer donnert den Hügel hinab. Explosionen. Ratternde Maschinengewehre. Und sehr viel Blut.

Was wie eine verstörende Momentaufnahme aus einem Kriegsfilm klingt, die sich nicht vor Steven Spielbergs Normandie-Landung in Der Soldat James Ryan verstecken müsste, ist stattdessen eine Spielszene von Battlefield 1 . Und bei obiger Beschreibung übertreibe ich kein bisschen: Die beeindruckende Frostbite 3-Engine lässt uns durch unglaublich echt wirkende Kulissen wandern, während Soldaten ständig Befehle brüllen, Todesschreie von sich geben oder Status-Berichte aufsagen. Es ist eine ungeschönte und bildgewaltige Präsentation, die vor dem Hintergrund der jüngsten Geschichte der Reihe ganz besonders auffällt.

Ein Schritt zurück: Das Battlefield-Franchise am Scheideweg

Mit Battlefield 2  gab EA im Jahr 2005 eine neue Stoßrichtung für das Franchise vor, die aus dem Vietnam-Dschungel und dem Zweiten Weltkrieg zu modernen Schlachtfeldern führte. Zehn Jahre lang sollten Shooter-Fans nun in den kommenden Spielen fast durchgehend austauschbare Wüstengebiete und anonyme Großstadtfassaden belagern. Diese neugewonnene Anonymität des virtuellen Schauplatzes war für die Battlefield-Serie eine Wohltat: Neben der erzählerischen Abwechslung, die die Entwickler den müden Vietnam- und Normandie-Veteranen bieten konnten, befreite sich das Franchise fast gänzlich von den Lasten eines historischen Settings. Es waren anonyme Schlachten zwischen anonymen Fraktionen, das Gameplay stand im Gegensatz zum Kontext unübersehbar im Vordergrund.

Eindrucksvoll, aber anonym: Die Schlachtfelder von Battlefield 4

Battlefield Hardline  stellte diese Situation vor einem Jahr auf den Kopf: Nach einer halben Dekade voller virtueller Massenschlachten wollte EA für frischen Wind sorgen und versuchte sich an einer Crime Story, die an TV-Formate wie Navy CIS oder Die Autobahnpolizei erinnerte. Auch spielerisch gab es Konsequenzen: Auf den deutlich kleineren Multiplayer-Karten bekämpften sich nun Polizisten und maskierte Verbrecher — eine Situation, die besonders durch die damals jüngsten Ereignisse in Frankreich unversehens an Aktualität gewonnen hatte.

Am 07. Januar 2015 stürmten zwei maskierte Täter das Redaktionsbüro der Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris, töteten elf Personen, verletzten mehrere Augenzeugen und töteten während ihrer Flucht schließlich noch einen Polizisten. Die Angreifer bekannten sich zur Terrorgruppe Al-Qaida im Jemen. Die Ereignisse an diesem Vormittag hielten die gesamte französische Hauptstadt in Atem, via Livestreams der verschiedenen Nachrichtenkanäle verfolgten weltweit Tausende Zuschauer die Geschehnisse. Der Dualismus Polizei und Staat versus Verbrecherschaften und Terrorismus hatte eine grausame Aktualisierung erfahren und in den Köpfen der Menschen eine noch lang pulsierende Narbe hinterlassen.

Drei Monate später erschien Battlefield Hardline. Dieses neue Battlefield erzählte in der Kampagne zwar die Geschichte von zwei amerikanischen Detectives, die eine Drogengang jagen, doch der Multiplayer, das Herz des Spiels, zeichnete ein anderes Bild: Hier tritt die Polizei vor austauschbaren Großstadtecken gegen Verbrecher an, die Banken ausrauben, Geiseln nehmen oder wertvolle Aktenkoffer zu sichern versuchen. Der Launch-Trailer zeigte Bilder, die an die Berichterstattung zu Charlie Hebdo erinnerten und kreierte so völlig unbeabsichtigt eine unangenehme unterschwellige Stimmung. Hinzu kam eine Soundkulisse, die — ausgerechnet jetzt — mit allem brach, was uns das Franchise zuvor geboten hatte.

Statt Explosionen im Sekundentakt, rollendem Panzerlärm und Kampfflugzeugen, die über unseren Köpfen hinwegdüsen und kilometerweit von unserer westlichen Lebenssituation entfernt sind, hören wir vor allem eines: Schreie und weithin hallendes Patronenfeuer, das der gesamten Szenerie eine unangenehm intime Atmosphäre verleiht. Der bewaffnete Konflikt war mit Battlefield Hardline auf eine Größe geschrumpft, die dem Spielgeschehen einen seltsamen Beigeschmack verliehen hatte. Der Schauplatz des Spiels blieb weiterhin so anonym wie die großen Massenschlachten der Vorgänger, doch durch das unglückliche Timing drängte sich Runde für Runde der unangenehme aktuelle Bezug zu den Ereignissen in Frankreich mal stärker, mal schwächer auf. Für das Ignorieren dieser konkreten Geschehnisse kurz vor Release von Hardline können die Entwickler allerdings kaum kritisiert werden — die Probleme des Spiels lagen woanders, beispielsweise bei der ganz offenen und unreflektierten Fetischisierung von Polizeigewalt. Jetzt, mit Battlefield 1, muss sich das Franchise allerdings wirklich erstmals die Frage gefallen lassen, wie es mit einem echten historischen Schauplatz, der innerhalb der Videospielwelt eine Sonderrolle einnimmt, umzugehen plant.

Nicht der erste, aber der größte Fußabdruck

Im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg, dessen bekannteste historische Schlachtfelder längst zum Einmaleins des Shooter-Genres gehören, heftet dem Ersten Weltkrieg als Kulisse für Videospiele noch immer das Image als unbearbeiteter Acker an, obwohl das so eigentlich gar nicht stimmt: Neben einer Vielzahl von Flugsimulatoren aus den 90er-Jahren griffen zuletzt auch beliebte Adventures und Shooter wie der Kickstarter-Erfolg Verdun  oder Ubisofts Drama Valiant Hearts  unter dem teils großzügig gestreckten Oberbegriff “Indie” den ersten der beiden Weltkriege auf. Battlefields Fußabdruck in den virtuellen Schützengräben wird somit nicht der erste, aber der größte sein. Hinter dieser Expedition steht ein riesiges Kapital und wirtschaftliches Interesse — und das hat schließlich auch spürbare Folgen für die Art und Weise, wie der Krieg im Spiel erlebbar sein wird.

Battlefield 1: Aufbruchstimmung, die eigentlich gar keine sein sollte.

Und so wurden vielen Fragen gestellt, nachdem EA den Schauplatz von Battlefield 1 enthüllte: Tragen die Entwickler nun eine Verantwortung dafür, wie sie den vermeintlich unberührten Stoff der Geschichte verarbeiten? Ist es ein ethisches Problem, dass Bonuspunkte locken, wenn wir besonders gut Senfgas-Bomben geworfen haben? Die geschlossene Alpha, die eine Woche für ausgewählte Spieler zur Verfügung stand, lieferte erste Hinweise darauf, in welchem Verhältnis das neue Battlefield zum historischen Hintergrund seines Setting stehen wird. Die Kampagne, die noch einmal ganz anders mit dem Thema umgehen kann, wird sich dieser Betrachtung noch stellen müssen, doch ich persönlich bin viel mehr daran interessiert, wie der Weltkrieg dort aussieht, wo ihn die meisten Fans nachspielen werden: im Multiplayer. Und der erste Eindruck ist durchaus aufschlussreich.

Das Entwicklerteam von EA Dice hat sich dafür entschieden, ihre Vision vom Ersten Weltkrieg in einem ganz bestimmten Licht zu präsentieren: Dreckig, matschig, blutig, chaotisch, echt. Der Nahkampf wurde komplett überarbeitet und bietet erstmals in der Seriengeschichte mehr als lediglich ungelenkes Drücken des Controller-Sticks. Das Ringen Mann gegen Mann soll zur echten und bestenfalls vielgewählten Alternative werden, denn dort, im Chaos des Nahkampfes, spielt Battlefield 1 die meisten seiner Neuerungen aus: Eine Vielzahl von animierten Exekutionen beenden die Angriffe der einzelnen Waffen von Schaufel über Axt bis zum Hammer, die ihr an eurem Gürtel ins Feld führt. Und hier erlebt ihr auch die beeindruckenden Frostbite 3-Effekte in all ihrer faszinierenden Wirkungskraft, etwa wenn euch Schlamm um die Ohren und Blut ins Gesicht schleudert. Garniert werden Szenen wie diese mit den Schreien, gebrüllten Befehlen und heiseren Hilferufen von Soldaten, die das Erbe der intimen Schlachtfeld-Atmosphäre von Battlefield Hardline nach Verdun & Co. tragen.

In diesem Licht waren die ersten Spielstunden wirklich befremdlich, auch für mich als langjährigen Battlefield- und Shooter-Fan. Die realistisch anmutenden Schlachtfelder, die für das Franchise ungewohnt brutalen Nahkämpfe, die spitzen Schreie überall, das schleifende Geräusch der Waffen und Fahrzeuge und schließlich das Gefühl, mal eben nicht vor den klassischen Kulissen des Genres unterwegs zu sein, hinterließen einen tiefen Eindruck. Keine Spur von Anonymisierung: Jeder Polygon strotzt nur so vor Geschichte.

Szenen, an die wir uns recht bald gewöhnen.

Doch egal, wie tief sich diese ersten Bilder in meinen Kopf eingruben, irgendwann setzte schließlich ein unvermeidbarer Gewöhnungseffekt ein. Und so fühlte ich mich nach ein, zwei Tagen schon deutlich enthemmter dabei, Soldaten mit Senfgas zu bewerfen oder im Panzer über Kaiserreich-Truppen zu rollen — allerdings nicht etwa, weil sich meine Sicht auf den Ersten Weltkrieg zu einer kriegsbegeisterten Schießlaune verändert hatte, sondern weil ich schlicht und einfach den Kontext mehr und mehr ignorieren konnte. So wurde aus Senfgas eine schlichte Granate, aus der Schlacht zwischen Franzosen und Deutschen der Kampf zwischen Armee 1 und Armee 2. Die Kämpfe hatten so zwar nicht unbedingt an Schrecken verloren, aber dafür ihre ständige unterbewusste Mahnung aufgegeben, dass wir mehr oder weniger einen der größten und blutigsten Kriege des 20. Jahrhunderts nachspielen.

Die Erkenntnis aus dieser Erfahrung liegt auf der Hand: Battlefield 1 ist kein Anti-Kriegsspiel, obwohl das einige Stimmen angesichts des vermeintlich behüteten und unbenutzten Schauplatzes gefordert hatten. Weder die Kampagne, die zwar bestenfalls eine mitreißende Geschichte erzählen, aber dennoch die Spieler nicht vor einer Ausweitung des Kampfes auf den Multiplayer abschrecken darf, noch der Multiplayer selbst können diesen Status erreichen. Am Ende des Tages muss ein AAA-Koloss wie Battlefield Geld einspielen und dieses Geld kommt von Spielern, die regelmäßig zumindest halbwegs motiviert und unterhalten auf die virtuellen Schlachtfelder ziehen und in Premium Packs investieren.

Doch zumindest in meinen Augen erreicht Battlefield 1 bereits jetzt im Multiplayer das, was derzeit in den Grenzen des Möglichen für ein Kriegsspiel dieser Dimension liegen kann: Der anfängliche Schockmoment, das Inszenieren eines Schlachtfeldes, das spielmechanisch zwar Spaß machen soll und muss, atmosphärisch aber zumindest eine kurze Zeit lang tatsächlich den Schrecken und Horror eines Krieges darzustellen vermag. Es sei dahingestellt, ob diese Wirkung nur ein Nebeneffekt der bedienten Begeisterung an Gewalt ist oder nicht, doch das Ergebnis ist zunächst einmal das gleiche: Wir horchen auf, bemerken einen Unterschied, brauchen Eingewöhnungszeit. Wir erkennen die vielen Unterschiede, mit denen sich Battlefield 1 nicht nur von seiner eigenen Geschichte, sondern auch von den Konventionen des ganzen Genres ein Stück weit entfemt. Diese Unterschiede tragen dazu bei, dass der erste Weltkrieg damit auch in AAA-Sphären ein eigenes Kapitel erhält, das die Entwickler diesem historischen Konflikt am Ende des Tages tatsächlich auch schuldig sind.

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