Bei Netflix: The Irishman ist das spektakuläre Begräbnis des Gangsterfilms

30.11.2019 - 13:30 UhrVor 4 Jahren aktualisiert
Robert De Niro und Al Pacino in The IrishmanNetflix
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Mit The Irishman suhlt sich Martin Scorsese in der Art Gangsterfilm, die er selbst am stärksten mitgeprägt hat. In der letzten Stunde erreicht der Regisseur aber nochmal neue Höhen.

Die Existenz von The Irishman grenzt bereits an ein Wunder. Lange Zeit wanderte das neue Netflix-Mafia-Epos von Martin Scorsese aufgrund der aufwendigen Effektarbeit durch eine beschwerliche Produktionsphase. Damit die drei Hauptdarsteller Robert De Niro, Al Pacino und Joe Pesci ihre Rollen in allen Zeitebenen der Handlung spielen konnten, setzte Scorsese auf das Verfahren der digitalen Verjüngung. In jüngerer Vergangenheit kam die Technologie beispielsweise bei den Kinderschauspielern in ES 2 zum Einsatz.

Letztlich ist das Budget von The Irishman dadurch auf ungefähr 160 Millionen Dollar gewachsen und stellt für Netflix als Streaming-Dienst ein reines Prestigeprojekt dar. Auf dem von Marken und Franchises beherrschten Kinomarkt ist ein Film wie The Irishman längst nicht mehr realisierbar. Dabei gelingt Scorsese mit seinem neuen Werk auf den letzten Metern noch das Unglaubliche: Er trägt ein ganzes Genre eindringlich zu Grabe.

The Irishman ist lange ein Best-of-Feuerwerk von Martin Scorsese

Wer Fan von Martin Scorseses großen Gangster-Klassikern wie GoodFellas - Drei Jahrzehnte in der Mafia und Casino ist, wird auch schnell Zugang zu The Irishman finden. Die auf wahren Tatsachen basierende Geschichte von Protagonist Frank Sheeran, der vom Lastwagenfahrer bis zum Bodyguard und Auftragskiller der Mafia aufgestiegen ist, inszeniert der Regisseur mit dem von ihm gewohnten Gangsterfilm-Rhythmus.

Joe Pesci und Robert De Niro in The Irishman

Den langsamen Aufstieg (und weit entfernt erscheinenden Fall) von Frank schildert Scorsese als Charakterstudie, in der die Bruchstellen zwischen machohafter Gangsterfassade und ungeschütztem Privatleben sichtbar werden. Genauso ist The Irishman eine detailverliebte Milieustudie, in der die Mechanismen der Mafia ebenso beleuchtet werden wie gesellschaftliche und politische Verstrickungen innerhalb des Justizsystems sowie korrupter Gewerkschaften.

Ähnlich wie seine bisherigen Gangsterfilme wandelt auch The Irishman auf einem schmalen Grat. Der Glorifizierung von charismatischen Stereotypen und Klischees steht dabei der nötige abschreckende Blick auf ein Leben gegenüber, das zwangsläufig in moralischer Verkommenheit, unaufhörlicher Paranoia und trostloser Einsamkeit enden muss.

The Irishman tauscht das Rauschgefühl gegen den gebrechlichen Kater ein

In einem Punkt unterscheidet sich The Irishman jedoch schon früh von vergleichbaren Scorsese-Gangsterfilmen. Das Gefühl des Rauschs, welches der Regisseur aus den schnelllebigen Geschichten seiner Figuren durch schwungvolle Kamerabewegungen und Schnitte direkt auf sein Publikum übertragen hat, fehlt in dem Netflix-Epos.

The Irishman beginnt in einem Pflegeheim, wo ein bereits stark gealterter Frank Sheeran seine Lebensgeschichte mit dem Zuschauer teilt. Von hier an zerfällt der Film bewusst in Einzelteile, die Scorsese als kleinere Episoden und längere Passagen über verschiedene Zeitebenen verteilt und miteinander vermischt.

Robert De Niro in The Irishman

So wird The Irishman zur Reise in sterbende Erinnerungen eines endenden Lebens. Immer wieder streut Scorsese Texttafeln zu Nebenfiguren ein, die bereits verraten, wann und wie diese Persönlichkeiten später jeweils gestorben sind. Auf den ersten Blick ein skurril-humorvolles Stilmittel, das den Tod und das Sterben als stetigen atmosphärischen Begleiter jedoch fest in dem Netflix-Film verankert.

Überhaupt hat das Gangsterleben in The Irishman absolut nichts Glorreiches mehr an sich. Elektrisierend ist Scorseses Film hauptsächlich durch die Leistungen der Schauspielgrößen Robert De Niro, Joe Pesci, Al Pacino und Harvey Keitel. In gemeinsamen Szenen spielen sich die legendären Darsteller mühelos die Bälle zu und laufen zu staunenswerten Höchstleistungen auf.

Auch wenn sich The Irishman über 2,5 der epischen 3,5 Stunden Laufzeit wie ein routiniertes, persönliches Gangsterfilm-Best-of von Scorsese anfühlt, ist es ein Hochgenuss, mit was für einer inszenatorischen Stilsicherheit und schauspielerischen Brillanz der Regisseur und sein Cast durch das Netflix-Epos führen.

Scorseses Film wird dadurch auch zu einem wehmütigen Gipfeltreffen, das es von den entscheidenden Beteiligten aufgrund ihres höheren Alters so nicht noch einmal geben dürfte. Alleine die von Falten und Furchen durchzogenen Gesichter sowie tiefen Augen von Robert De Niro und dem glücklicherweise nochmal aus dem schauspielerischen Ruhestand zurückgekehrten Joe Pesci erzählen ganze Geschichten über die eigentliche Handlung des Films hinaus.

Achtung, es folgen Spoiler für The Irishman:

In der letzten Stunde steigt The Irishman in neue Höhen auf

Zu einem großartigen Werk wird The Irishman dann in der letzten Stunde. Plötzlich kommen die sprunghaften Zeitebenen zur Ruhe und Scorsese lenkt das Schicksal von Frank Sheeran auf einen markerschütternden Höhepunkt zu.

Robert De Niro in The Irishman

Loyalitäten und jahrelange Freundschaften zerbrechen unter dem Kodex der Kriminalität, während der Regisseur den einschneidendsten Mord seines Protagonisten mit beklemmender Ruhe über endlos wirkende Minuten ausbreitet. Anschließend entwickelt sich der Film zur bestürzenden Meditation über Schuld, Trauer, Isolation, das Leben und den Tod selbst.

Indem Scorsese seine verbliebenen Gangster-Figuren diesmal nicht durch ein vorzeitiges Ableben oder offen gehaltenes Schicksal aus der Geschichte lässt, sondern bis zu ihrem körperlichen Verfall im höchsten Alter begleitet, wird The Irishman zur filmgewordenen Grabrede für den Gangsterfilm an sich.

Wie sich der Regisseur mit den Konsequenzen des von ihm so stark geprägten Genres auseinandersetzt, erinnert in der selbstreflexiven Art an die letzten Werke von Lars von Trier und Quentin Tarantino.

Ähnlich wie der radikal mit den eigenen Dämonen ringende The House That Jack Built und der von nostalgischen Kindheitserinnerungen und Sehnsüchten geprägte Once Upon a Time ... in Hollywood errichtet The Irishman ein gewaltiges Vermächtnis aus vertrauten Zitaten, das schließlich tragisch zum Einsturz gebracht wird.

Anna Paquin in The Irishman

Am Ende sind es vor allem die kurzen Momente zwischenmenschlicher Bestürzungen aus der großen letzten Stunde, die von The Irishman unvergesslich bleiben werden. Joe Pescis Russell, der am Ende im Pflegeheim nach einem Schlaganfall ohne Zähne nicht mal mehr Brot kauen kann.

Anna Paquin, die als erwachsene Tochter von Frank im gesamten Film nur in einer Szene wenige schmerzliche Worte spricht und ihren Vater ansonsten durch Schweigen aus ihrem Leben verbannt.

Und Robert De Niro, der selten eine solche Emotionalität transportiert hat wie in der Szene, in der er zitternd und um Worte ringend ein Telefonat führen muss. Am Ende sitzt er ganz alleine im Pflegeheim und bittet darum, dass die Tür zu seinem Zimmer immer einen Spalt breit offen gelassen wird. Doch nicht einmal der Tod tritt hier noch ein.

Die neue Podcast-Folge zu The Irishman ist da

  • Andrea, Esther und Jenny stellen sich in der 7. Folge Streamgestöber die Frage, wo The Irishman auf der Scorsese-Skala von Mafia-Meisterwerk bis ultralangweilig einzuordnen ist und kommen zu einem erstaunlichen Fazit: Gerade die Unterschiede zu klassischen Mafia- und Gangstergeschichten zeichnen das Netflix-Epos aus. Bei 00:06:38 geht es mit The Irishman los.


Habt ihr The Irishman schon gesehen? Wie fandet ihr Martin Scorseses Netflix-Epos?

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