Berlinale: Jeder stirbt für sich allein - 08/15-Historien-Muff

16.02.2016 - 10:00 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
Daniel Brühl und Brendan Gleeson in Jeder stirbt für sich alleinX Verleih, Warner Bros
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Auch Emma Thompson und Brendan Gleeson können die Literaturverfilmung Jeder stirbt für sich allein nicht retten, dafür zeigt sich Logan Lerman in der Philip-Roth-Adaption Indignation von seiner besten Seite.

Das sei ein toller Anfang, meinte Emma Thompson nach der ersten Frage in der Pressekonferenz für Jeder stirbt für sich allein. Ein toller Anfang für einen Film, in dem es um etwas anderes geht. Gefragt wurde nämlich nach ihrer Haltung zur Flüchtlingsthematik und man muss kein Hans Fallada-Forscher sein, um die dezente thematische Abschweifung zu erkennen. Pressekonferenzen auf der Berlinale sind häufig eine Lektion in höherer Fremdscham. Eine kurze Typisierung von Fragestellern zeigt erstens den Monologisierer, der seine Sicht der (Film-)Welt darlegen will und am Ende ein fadenscheiniges Fragezeichen dranhängt. Zweitens den Typus Wikipedia, der die PK nutzt, damit andere ihm Plot-Wendungen oder gleich den ganzen Film erklären. Drittens der Zungenredner, dessen Anliegen niemand dechiffrieren kann, den alle aber irgendwie nett finden, und viertens der Politikteil auf zwei Beinen. Leider können die wenigsten Pressekonferenzen mit dem Typus "Star" punkten, den an diesem Montag im Februar Jeder stirbt für sich allein aufbot: Emma Thompson. Die Darstellerin der Anna Quangel nahm die erste Frage mit einem die Stimmung lösenden sarkastischen Unterton hin. Danach fiel die PK erinnerungsträchtiger aus als der Wettbewerbsfilm, um den es ging.

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Wobei Emma Thompson und gerade auch ihr Filmehemann Brendan Gleeson noch zu den wenigen Gründen zählen, sich die Hans Fallada-Adaption überhaupt anzusehen. Das Ehepaar Quangel verliert 1940 den einzigen Sohn an der Westfront und strengt daraufhin einen ganz persönlichen Widerstand gegen die Kriegstreiberei des nationalsozialistischen Regimes an. Otto (Gleeson) beschreibt Postkarten mit aufwieglerischen Parolen gegen den Krieg und für eine freie Presse. Diese legt er an öffentlichen Orten aus, um andere Bürger aufzurütteln. Wenig später wird der Polizeiinspektor Escherich (Daniel Brühl) damit beauftragt, dem Urheber der Karten auf die Spur zu kommen. Es entspinnt sich eine Montagensammlung für alle Connaisseurs von Postkarten und roten Fähnchen auf Stadtplänen.

Doch wenn Jeder stirbt für sich allein gerade mal nicht den Muff von tausend Prestige-Nazi-Dramen atmet, bietet der komplett auf Englisch gedrehte Film immerhin Thompson und Gleeson. Am Schicksal der Quangels in der Literaturverfilmung berührt weniger ihre Courage. Denn das Drehbuch von Achim und Bettine von Borries fasst den Widerstand zuallererst als Annäherung zweier Menschen auf, die von der Trauer in die Stille getrieben wurden. In einem Film, in dem selbst echte Straßenzüge unbelebt und wie Kulissen wirken, wärmen Thompson und Gleeson das Prozedere mühsam, aber mit der ungekünstelten Nähe eines alten Ehepaars auf. Sicherlich leisten sie weit mehr, als es die Produktion verdient. Anderseits schafft es Gleeson in dem Wettbewerbsbeitrag mit einem einzigen Zucken seines Augenlids emotionale Wellen über den aufmerksamen Zuschauer hinwegbrechen zu lassen. So viel Lob muss sein.

Logan Lerman und Sarah Gadon in Indignation

Der PK-Typ Monologisierer hätte wohl mehr Freude an der geradlinigen Fallada-Adaption als an den grandiosen Debatten in der Philip Roth-Adaption Indignation gehabt. James Schamus, seinerseits Focus Features-CEO und langjähriger kreativer Partner von Ang Lee, ist unter die Regisseure gegangen. Für seinen Erstling hat er sich Philip Roths gleichnamigen Roman von 2008 ausgesucht, der hierzulande unter dem Titel Empörung veröffentlicht wurde. Logan Lerman spielt Marcus. 1951 entkommt dieser dem Dienst im Koreakrieg und dem Einfluss seiner Familie dank eines Studiums in Ohio. Marcus könnte als entfernter Verwandter von Tobey Maguires Figur aus Der Eissturm durchgehen, welcher von Schamus mitverfasst wurde. Ein bisschen unbeholfen, ein bisschen schüchtern, versteckt der jüdischstämmige Marcus einen wachen Intellekt, der in dem christlichen College bald auf die Probe gestellt wird, durch die Kommilitonin Olivia (Sarah Gadon), die ihm Kontra und noch ganz andere Dinge geben kann. Aber auch der Dekan Caudwell (Tracy Letts) hat ein Auge auf Marcus bzw. seine Akte geworfen.

Was passiert, wenn man zwei Freigeister nach Ohio, statt an die Sorbonne oder nach Berkeley schickt? Schamus' Adaption von Indignation verlegt sich nicht aufs Offensichtliche: das tragische Ringen eines Intellektuellen, der, wenn nicht seiner Zeit, so doch seinem Ort voraus ist. Als größtes Hindernis für den Bertrand Russell zitierenden Atheisten Marcus stellt sich seine eigene Hybris heraus. Diese deutet sich im Glanzstück des Films an, einer brillanten Debatte zwischen Student und Dekan, über die Gretchenfrage, Familienbande, Dates und den Unterschied zwischen "Sir" und "Dean". Blitzschnell tauschen sie Argumente, Spitzen, Zitate und Rückgriffe auf frühere Gesprächsthemen auf, sodass ihre dialogischen Haken zur reinsten Wonne des im dunklen Kinosaal sitzenden Zeugen aufsteigen. Der gediegen inszenierte Indignation blüht in den präzisen Schnittfolgen quasi mit dem Intellekt Marcus' auf, der unerwartet einen ebenbürtigen Widersacher gefunden hat. Logan Lerman verbindet dabei die Arroganz jugendlicher Besserwisserei mit einem jungenhaften, unschuldigen Charme, wie es ein Leading Man ohne Entfremdung des Publikums erstmal schaffen muss. Was übrigens auch für eine derart ausführliche Szene mit dem theatererprobten Tracy Letts gilt. Nach den Percy Jackson-Filmen konnten wir Lerman begründeterweise belächeln, spätestens nach Indignation sollten wir ihn schätzen.

Es muss schon ein politisches "politisches Festival" sein, dass ein Film wie Indignation, der Slut Shaming, Red Scare, den Koreakrieg und die Freiheit des Einzelnen verhandelt, zu den zurückhaltenderen Beiträgen der Berlinale gehört. Die leidlich originelle Satire Death in Sarajevo von Danis Tanovic (No Man's Land) stürzt sich dagegen in die europäischen Krisen der Gegenwart über den Umweg 1914. Zum 100. Jahrestag des Attentats auf Erzherzog Franz Ferdinand durch Gavrilo Princip wird das fiktionale Hotel Europa in Sarajevo zum Mikrokosmos bosnischer und serbischer Befindlichkeiten. Auf dem Dach werden Experten über Princips spätere Verherrlichung durch Nationalisten befragt, in der Tiefgarage verprügeln Gangster einen Streikführer. Sogar eine Art Doppelgänger von Gavrilo Princip darf zu Wort kommen, um die Position des Mannes zu verteidigen, dessen Attentat den Ersten Weltkrieg auslöste. In komplexen Kamerafahrten mit einer Vielzahl von Figuren wird ein Klein-Europa entworfen, in dem die Gewalt sich dank ungeklärter Fronten zyklisch zu wiederholen droht. Allerdings leidet der teils didaktisch aufbereitete Film unter der Abwesenheit reizvoller Figuren, die über den Status einer netten Drehbuchidee hinauskommen.

Als inoffizielles Gegenprogramm lief am fünften Tag der Berlinale 2016 glücklicherweise der chinesische Wettbewerbsbeitrag Crosscurrent. Darin fährt ein Kapitän seinen Lastkahn über den Yangtze, von Shanghai bis zum Drei-Schluchten-Staudamm. Ein Gedichtband und die Erinnerungen an eine wiederholt am Ufer auftauchende Frau verwandeln die Fahrt in eine Reise durch eine Geisterwelt. Deren hypnotische Aufnahmen von dunklen Kutterflotten und verlassenen Yangtze-Tälern wurden von Mark Lee Ping-Bing (In the Mood for Love - Der Klang der Liebe, The Assassin) eingefangen. Auf seine Art ist Crosscurrent ebenfalls ein politischer Film, aber auf eine andere all das, was der Zuschauer in ihm sehen will. Die für den Drei-Schluchten-Damm überfluteten Städte des Flusstales, ja, die verlorene Kultur und Geschichte dieser Region begleiten den Kapitän wie die unruhigen Seelen seiner Ahnen. Regisseur Yang Chao sollten wir uns merken.

Emma Tompson jedenfalls hielt den politischen Fragen stand. Während Mikael Persbrandt etwas übernächtigt an einem goldenen Bärchen herumstupste, legte Thompson Brendan Gleeson beruhigend die Hand auf den Arm. Der hatte gerade das stark vom Buch abweichende Ende verteidigt. "Question! Question!" raunte die Journalistin neben mir genervt, als der Monolog eines Kollegen nicht zu seinem herbeigesehnten Ende kommen wollte. Später wurde Thompson natürlich noch gefragt, was sie vom potenziellen EU-Austritt Großbritanniens hält. "We should be taking down borders, not putting them up", lautete ihre Antwort. Die erfahrene Drehbuchautorin Emma Thompson lieferte also auch den dramatischen Klimax dieses seltsamen Stücks.

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