Chernobyl ist genau der Serien-Hit, den wir nach Game of Thrones brauchen

16.06.2019 - 13:00 UhrVor 3 Jahren aktualisiert
ChernobylSky/HBO
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Düster, deprimierend und ein Phänomen: Die Serie Chernobyl hat sich im Windschatten von Game of Thrones zum Hit entwickelt. Warum sehnen wir uns so nach einem wahren Downer?

Chernobyl ist mein Der Junge muss an die frische Luft. Als Waleri Legassow in der ersten Folge der Katastrophen-Serie den Müll rausbrachte, verfiel ich ihr. Nicht etwa wegen des unheimlichen KGB-Mannes, der ihn beobachtete, sondern weil sein Emailleeimer mir so vertraut schien: So einen ähnlichen (in Himmelblau) hatten wir daheim noch kurz nach der Wende.

Chernobyl ist nun alles andere als eine Ostalgie-Party. Allerdings besticht die Serie durch die Genauigkeit, mit der die Atmosphäre einer Ära nachgestellt wird. Was beim Hape Kerkeling-Biopic der Mett-Igel, ist in Chernobyl der Mülleimer. Der Nimbus der Authentizität gehört zweifellos zu den Gründen für die enorme und enorm überraschende Popularität von Chernobyl.

Ausgerechnet diese Serie, in der einem statt Eis-Zombies Aufbau und Funktionalität eines RBMK-Reaktors einholt, mauserte sich in den letzten Wochen zum Quoten-Hit. Auf wundersame Weise ließ einen Chernobyl sogar das Finale der größten Serie der letzten Jahre vergessen: Game of Thrones.

Der Chernobyl-Erfolg kam völlig überraschend

Chernobyl kam aus dem Nichts, zumindest für HBO-Verhältnisse. Schöpfer und Autor Craig Mazin hat zuvor Hangover- und Scary Movie-Sequels geschrieben, die ihren ganz eigenen Horror entfalten, allerdings unfreiwillig.

Die Hauptdarsteller sind allesamt bekannt, nur nicht so bekannt, dass sie zum Einschalten zwingen. Jared Harris trat davor in der atmosphärisch gar nicht mal unähnlichen 1. Staffel von The Terror auf. Die Breaking the Waves-Reunion von Emily Watson und Stellan Skarsgård hat derweil sicher die 217 Lars von Trier-Fans unter den Chernobyl-Zuschauern entzückt.

Während sich anderswo dreimalige Oscar-Gewinnerinnen um Serienrollen reißen, war Chernobyl in gewisser Weise ein Erfolg vom alten Schlag.

Chernobyl

Erstklassige Schauspieler in TV-Größe bot die Serie mit einer bezwingend einfachen Grundidee auf: Was geschah hinter dem Eisernen Vorhang, nachdem Reaktor 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl explodierte?

Chernobyl: Woche für Woche der pure Horror

Wie erstaunlich dieser Quotenerfolg ist, zeigt sich mit einer simplen Frage: Habt ihr schon mal von The Hot Zone gehört? Darin versucht Julianna Margulies einen Ausbruch des Ebola-Virus in den USA Ende der 80er zu verhindern. Die Miniserie teilt viele Grundzutaten mit Chernobyl und erhielt gute Kritiken.

Sie führt trotzdem ein Nischendasein, wie es im Zeitalter des Peak-TV typisch ist. Wir erleben schließlich einen Serienboom auf unterschiedlichsten Kanälen und Plattformen, der die Übersicht zur Mammutaufgabe macht.

Chernobyl ist diesem Schicksal entronnen, was auch an der fast parallelen Ausstrahlung bei HBO und Sky liegt. Als transatlantische Koproduktion konnte die Serie ohne größere Verzögerung ein großes Publikum erreichen.

Infos zu Chernobyl für Zwischendurch:

Ihre Sender förderten zudem das, was noch immer eines der größten Probleme von Streaming-Anbietern wie Netflix und Amazon bleibt. Innerhalb von fünf Episoden entfaltete sich der Effekt der Mundpropaganda auch, weil er eineinhalb Monate dafür Zeit hatte.

Allein die Vorstellung eines Chernobyl-Binge-Wochenendes dreht mir den Magen um. Chernobyl bietet zwar wie eine der erfolgreichsten aktuellen Serien, The Walking Dead, Horror und zerfallende Menschenkörper. Insofern fügt sich die Serie neben The Terror, Spuk in Hill House und Channel Zero in den Genre-Trend ein.

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Der existenzielle, viel zu reale Schrecken, den die Serie verbreitet, fordert jedoch eine Woche Pause (am liebsten in einem blei-verstärkten Bunker). Wenn die Liquidatoren in Episode 4 in Echtzeit die verstrahlten Graphit-Klötze des Reaktors vom Dach fegen, dann geht das dem involvierten Zuschauer an die Substanz.

Chernobyl-Zuschauer wollen wissen, wie es weitergeht, aber sie brauchen auch ein paar Tage, um in der Embryohaltung durch die Wikipedia-Einträge von RBMK-Reaktoren und dem echten Waleri Legassow zu scrollen.

Chernobyl erzählt weiter, wo Game of Thrones endet

In gewisser Weise entzieht sich Chernobyl dem Binge-Durst, weil die Serie im Prinzip mit dem Finale anfängt (die Hauptfigur erhängt sich, der Reaktor explodiert) und erst in der letzten Folge zeigt, wie es dazu kam. Dazwischen findet eine Art Schadensbegrenzung statt, die sich programmatisch perfekt ans Ende von Game of Thrones andockt.

Die Fantasy-Serie bleibt vage im Umgang mit dem Wiederaufbau, in Chernobyl werden fünf Episoden nur für die Nacherzählung dessen verwendet.

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Der Titel fasst das Erfolgsrezept zusammen: Chernobyl ist vielen ein Begriff, gerade auch europäischen Millennials, die als Kinder plötzlich keine Pilze mehr essen durften oder in der Schule Care-Pakete in die Ukraine schickten.

Wir assoziieren den Schrecken mit diesem Serientitel, können ihn aber kaum mit konkreten Informationen und vor allem Menschen ausschattieren. Darin findet sich das Versprechen der Serie. Die Genauigkeit ihrer - wenn auch nicht unfehlbaren - historischen Rekonstruktion ist der Köder (und wir sind die orangen, dreiäugigen Fische, die anbeißen).

Chernobyl passt in die Zeit der Fake News

Auf der Suche nach den Gründen für die Popularität von Chernobyl kommen wir natürlich nicht an unserer Gegenwart vorbei. Craig Mazin plante die Serie zwar vor der Präsidentschaft von Donald Trump, der Diskussion über Fake News, russische Wahlmanipulationen und ähnliches.

Die Frage "What is the cost of lies" bildet nichtsdestotrotz die Klammer der fünf Folgen von Chernobyl. Gibt es einen Nerv der Zeit, dann hat Chernobyl geradewegs hineingebohrt.

Die filmische wie TV-Ahnenlinie von Jared Harris' Waleri Legassow reicht zum Watergate-Film Die Unbestechlichen und darüber hinaus, zu mutigen Journalisten oder Whistleblowern, wie in der Zigaretten-Enthüllungsgeschichte The Insider. Er steht ein für die Wahrheit im Angesicht einer Vertuschungsaktion, die Menschenleben kostet.

Zugleich, und das gehört zu den besten Aspekten von Chernobyl, verhält es sich mit seinem Heldentum komplizierter als bei vielen vergleichbaren US-Figuren. Manchmal knickt er nämlich auch ein, was ihn zu einem Update der teils überzeichneten Antihelden in der Tradition von Tony Soprano werden lässt.

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Legassow muss kein Meth kochen oder Serienkiller killen. Er hat es mit einer der größten Katastrophen des letzten Jahrhunderts und einem Regime zu tun, das selbst verschuldete Katastrophen in seinem Geschichtsbild nicht zulässt, ob nun Tschernobyl oder die Hungersnot in der Ukraine der 1930er. Das wiegt schwer genug.

Chernobyl bietet uns bei allem Schrecken ein Ventil

Dieser zwiespältig dargestellte Legassow kommt gerade recht in einer Zeit medialer Katastrophenüberflutung. Wenige Wochen vor dem Start von Chernobyl konnte man bei Twitter live zuschauen, wie der Dachstuhl der Kathedrale Notre-Dame de Paris abbrennt, ein Moment der Ohnmacht, der unseren Medienkonsum zwischen gestreamten Attentaten und anderen Schrecken auf ein Bild reduziert.

Nun haben wir fünf Folgen gespannt beobachtet, wie sich unterschiedlichste Menschen zusammentun, um einer Katastrophe unter großen Opfern Herr zu werden, ob Barry Keoghan als Liquidator, der Hunde erschießen muss, oder eben Legassow, der sich das Leben nimmt.

Chernobyl beruhigt in diesem Kontext nicht, wir flüchten nicht vor der Realität, wir erleben sie vielmehr extrem verdichtet und in kürzester Zeit nach. Bei allem Realismus schenkt uns die Serie innerhalb dieses seriellen Schnellkochtopfs mal mehr, mal weniger gelungene Ventile der Wahrheit, die es so in Wirklichkeit nicht gab.

Emily Watsons fiktiver Zeigefinger auf zwei Beinen zählt dazu, ebenso wie das Finale im Prozess. Waleri Legassow steht da und spricht mit blauen und roten Kärtchen endlich aus, was geschehen ist. Er erklärt faktisch präzise, welche Rolle die Schwärzungen in Berichten über den Reaktor-Typ spielen.

Jemand kämpft für die Wahrheit und sie kommt vor unseren Augen ans Licht. Der Druck wird abgelassen. Für ein paar Minuten können wir in diesem gelungenen Hollywood-Klischee aufatmen. Ein echter Fantasy-Moment.

Was haltet ihr von dem Erfolg von Chernobyl?

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