Was ist eine Fan-Theorie? Und was ist sie nicht? Das Internet weiß
darauf keine eindeutige Antwort. Die Google-Suche nach Definitionen
führt zum einen ins nutzerbasierte Slangwörterbuch Urban Dictionary,
doch fehlt dort bislang ein enzyklopädietauglicher Eintrag, der das Phänomen prägnant zusammenfasst (und nicht allein dessen Auswucherungen ). Zum anderen verweist sie auf den Social-News-Aggregator reddit , dessen Namenszusammensetzung aus read und edit
die Sache vielleicht schon gut auf den Punkt bringt: Menschen haben
eigene Ideen zu fiktionalen Werken und machen diese als Fan-Theorie
produktiv.
Sie sinnieren über eigentliche Plots, verborgene Handlungsdetails und tatsächliche Beziehungen zwischen Figuren aus Film und Fernsehen (ferner: aus Literatur, Musik, Videospielen), die online geteilt werden und viral
gehen können. Versteht man Fan-Theorien dabei als Meta- oder Paratexte,
deren konkrete Bezüge zum Ursprungsmaterial die Lesart desselbigen
beeinflussen wollen, offenbaren sich wesentliche Unterschiede zur
artverwandten fan fiction: Sie schmücken keine Geschichten aus,
sondern erzählen sie auf vermeintlich korrekte Weise. Und sie
orientieren sich nicht an einem Kanon, sondern wirken im Gegenteil jeder
Form von Kanonisierung entgegen.
Keine interpretatorischen Barrieren
Erstmal ist das durchaus eine spannende Angelegenheit. Alle künstlerischen Werke sind zur Interpretation freigegeben,
jedes kann und sollte auf unterschiedliche Art sinnlich erfasst werden.
Fan-Theorien spinnen daraus nun ein Prinzip der willkürlichen Um- bzw.
zweckdienlichen Gegen-Deutung: Sie behaupten, der wirkliche Kern
einer Erzählung sei ein anderer als bisher angenommen, und sie kreieren
Leerstellen in für Leerstellen vielleicht nicht vorgesehenen
Unterhaltungsformaten, um sie erfinderisch ausfüllen zu können (das
Aufkommen von Fan-Theorien ausgerechnet in einer Phase des Kinos, die
man – jedenfalls erzählerisch – durchaus Krise nennen könnte, ist ein
ganz anderes Thema).
Spannend könnten Fan-Theorien also schon
deshalb sein, weil es bei ihnen nicht um eine Rezeption auf Grundlage
mutmaßlicher Absichten und demnach werkimmanenter Beschränkungen geht,
sondern um die Aushebelung aller interpretatorischen Barrieren: So
lange sie interessant argumentiert werden, können sie sich einer Sache
in noch so abwegiger Weise annehmen. Es wäre falsch, sie aus spröden
Beweggründen wie etwa einer verpflichtenden Idee von
Intentionalisierung heraus abzulehnen – wenn Fan-Theorien eine Offenheit
in "geschlossenen" Werken der Kunst behaupten und sich diese kreativ
zu eigen machen, bereichert das theoretisch den filmischen (und auch
jeden anderen) Diskurs.
"Was wäre wenn"-Szenarios
Leider verhält es sich praktisch
allerdings genau andersherum, denn zumindest ihre Offenheit drosseln sie
in erheblichem Maße selbst: Beinahe alle Fan-Theorien entstammen einer
Auseinandersetzung mit postmodern-ikonischen bzw. dem
Popkulturgrundstock angehörigen Titeln und werden durch Faktoren wie
virales Potenzial oder zielstrebiges crowdpleasing noch
zusätzlich reglementiert. Das lässt die Auswahl der jeweiligen
Ursprungstexte ziemlich überschaubar aussehen und bildet auch
seinerseits nur wieder einen berechenbaren Kanon.
Neben beliebten Fernsehserien (Game of Thrones, Die Simpsons, Friends
et al.) geht es in zahllosen Fan-Theorien und ihren nicht immer ganz
einleuchtenden "Was wären wenn"-Szenarios folglich vor allem um populäre
Figuren wie Harry Potter (oder seinen Freund Ron Weasley, der angeblich
ein zeitreisender Dumbledore ist), um James Bond (bei dem es sich nun plötzlich um einen von unterschiedlichen Figuren benutzten Codenamen handeln soll) und natürlich auch um traffic-kompatible Superhelden wie Batman, dessen tatsächlicher Vater einer ebenso vieldiskutierten Fan-Theorie zufolge in Wahrheit Master Alfred sei.
Fan- und Verschwörungstheorie
Die
starke Konzentration vieler Fan-Theorien auf Beschäftigungsobjekte, von
denen man eigentlich meinen könnte, dass über sie längst schon alles
gesagt worden ist, erweitert nicht den Blick auf Film- oder
Seriengeschichte, sie schränkt ihn ein. Die Titelfigur aus Ferris macht blau erklären Fan-Theoretiker zur Imagination seines besten Freundes Cameron, als hätte die Welt über den finalen Twist von Fight Club nicht schon genug schwadroniert. Die männlichen Hauptfiguren aus Jurassic World und Mad Max: Fury Road
wiederum glauben sie bereits in früheren Teilen der jeweiligen
Kinoserien entdeckt zu haben, weil sich die Filme offenbar noch nicht
ausreichend handlungsverschränkt als Sequels und Prequels zu erkennen
geben.
Zurück in die Zukunft, der zusammen mit Ghostbusters und den Goonies
in gewisser Hinsicht den Beginn einer nostalgisch gedachten
Nerd-Filmgeschichte heutiger Thirtysomethings markiert, muss schließlich
für besonders infantile Fan-Theorien herhalten: Gar nicht mal so
augenzwinkernd behauptet etwa dieses Video (das nur eines von zahlreichen ähnlich gelagerten auf YouTube ist), Regisseur Robert Zemeckis habe bereits in den 1980er-Jahren die Terroranschläge vom 11. September 2001 vorhergesagt
– was man natürlich einerseits als Jux abtun, andererseits als
konsequente Verschmelzung von Fan- und Verschwörungstheorie begreifen
kann.
"You'll never watch it the same way again!"
Vergleichsweise originelle, nicht auf Fiebertraum-Wendungen oder anderen Unsinn abzielende Ideen wie die sogenannte Pixar-Theorie ,
laut der alle Filme des Animationsstudios im selben Universum zu
verorten sind, kranken hingegen an einer nochmals verengten Form von
Plotfetischismus. Ihre Erklärungsmuster haben wenig mit konkreter oder
ernsthafter Untersuchung eines Werkes, aber viel mit Verundeutlichung
und Trivialisierung zu tun: In der Konstruktion von Kausalität mag sich
eine sympathische Sehnsucht nach größeren Zusammenhängen Ausdruck
verschaffen, doch die Erkenntnis muss denkbar simpel bleiben – alles ist
verbunden und alles ist irgendwie egal.
Die stete Annahme, Filme besäßen Botschaften (oder schlimmer noch: geheime
Botschaften), schlägt bereits in der ideologiekritischen Praxis
hinreichend absurde Haken, wenngleich diese für gewöhnlich noch ein ernsthaftes
analytisches Interesse an ihren Gegenständen signalisiert. Fan-Theorien
allerdings operieren von vornherein in einem sensationalistischen
Enthüllungsmodus ("You'll never watch it the same way again!"), der
Fiktionen verdoppelt und -dreifacht, um über bloße Behauptungen
vermeintliche Aussagen treffen zu können: Actually ist das alles so und so, im groß buchstabierten eigentlich liegt schon der Erkenntnisgewinn.
Fan-Theorien ermöglichen es ihren Schöpfern, selbst zu Autoren eigener Lieblingsgeschichten zu werden. Doch wie man auf reddit anschaulich nachvollziehen kann, ist die Lust am kollektiven Um- und Fortschreiben dieser Geschichten zumindest momentan nichts weiter als ein verkrampfter Wettbewerb um Deutungshoheit: In entsprechenden Diskussionen wird nicht über künstlerische Werke, sondern die Plausibilität der sie betreffenden Theorien debattiert – als ebenso sportives wie widersprüchliches Happening, das sich auf merkwürdige Art zwischen der Wertschätzung einer Sache und diskursfeindlichem Bescheidwissen bewegt. Mit starker Tendenz zu letzterem.