Das merkwürdige Phänomen der Fan-Theorien

30.09.2015 - 08:50 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
Lieblingsfiguren vieler Fan-Theorien: Marty McFly und Doc Brown aus Zurück in die Zukunft
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Lieblingsfiguren vieler Fan-Theorien: Marty McFly und Doc Brown aus Zurück in die Zukunft
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Sie schießen wie Pilze aus dem Boden und werden mit großer Ernsthaftigkeit auf ihre Plausibilität hin überprüft: Fan-Theorien schreiben Film- oder Seriengeschichte eigensinnig um – und können einem dabei ziemlich auf die Nerven gehen.

Was ist eine Fan-Theorie? Und was ist sie nicht? Das Internet weiß darauf keine eindeutige Antwort. Die Google-Suche nach Definitionen führt zum einen ins nutzerbasierte Slangwörterbuch Urban Dictionary, doch fehlt dort  bislang ein enzyklopädietauglicher Eintrag, der das Phänomen prägnant zusammenfasst (und nicht allein dessen Auswucherungen ). Zum anderen verweist sie auf den Social-News-Aggregator reddit , dessen Namenszusammensetzung aus read und edit die Sache vielleicht schon gut auf den Punkt bringt: Menschen haben eigene Ideen zu fiktionalen Werken und machen diese als Fan-Theorie produktiv.

Sie sinnieren über eigentliche Plots, verborgene Handlungsdetails und tatsächliche Beziehungen zwischen Figuren aus Film und Fernsehen (ferner: aus Literatur, Musik, Videospielen), die online geteilt werden und viral gehen können. Versteht man Fan-Theorien dabei als Meta- oder Paratexte, deren konkrete Bezüge zum Ursprungsmaterial die Lesart desselbigen beeinflussen wollen, offenbaren sich wesentliche Unterschiede zur artverwandten fan fiction: Sie schmücken keine Geschichten aus, sondern erzählen sie auf vermeintlich korrekte Weise. Und sie orientieren sich nicht an einem Kanon, sondern wirken im Gegenteil jeder Form von Kanonisierung entgegen.

Keine interpretatorischen Barrieren

Erstmal ist das durchaus eine spannende Angelegenheit. Alle künstlerischen Werke sind zur Interpretation freigegeben, jedes kann und sollte auf unterschiedliche Art sinnlich erfasst werden. Fan-Theorien spinnen daraus nun ein Prinzip der willkürlichen Um- bzw. zweckdienlichen Gegen-Deutung: Sie behaupten, der wirkliche Kern einer Erzählung sei ein anderer als bisher angenommen, und sie kreieren Leerstellen in für Leerstellen vielleicht nicht vorgesehenen Unterhaltungsformaten, um sie erfinderisch ausfüllen zu können (das Aufkommen von Fan-Theorien ausgerechnet in einer Phase des Kinos, die man – jedenfalls erzählerisch – durchaus Krise nennen könnte, ist ein ganz anderes Thema).

Spannend könnten Fan-Theorien also schon deshalb sein, weil es bei ihnen nicht um eine Rezeption auf Grundlage mutmaßlicher Absichten und demnach werkimmanenter Beschränkungen geht, sondern um die Aushebelung aller interpretatorischen Barrieren: So lange sie interessant argumentiert werden, können sie sich einer Sache in noch so abwegiger Weise annehmen. Es wäre falsch, sie aus spröden Beweggründen wie etwa einer verpflichtenden Idee von Intentionalisierung heraus abzulehnen – wenn Fan-Theorien eine Offenheit in "geschlossenen" Werken der Kunst behaupten und sich diese kreativ zu eigen machen, bereichert das theoretisch den filmischen (und auch jeden anderen) Diskurs.

"Was wäre wenn"-Szenarios

Leider verhält es sich praktisch allerdings genau andersherum, denn zumindest ihre Offenheit drosseln sie in erheblichem Maße selbst: Beinahe alle Fan-Theorien entstammen einer Auseinandersetzung mit postmodern-ikonischen bzw. dem Popkulturgrundstock angehörigen Titeln und werden durch Faktoren wie virales Potenzial oder zielstrebiges crowdpleasing noch zusätzlich reglementiert. Das lässt die Auswahl der jeweiligen Ursprungstexte ziemlich überschaubar aussehen und bildet auch seinerseits nur wieder einen berechenbaren Kanon.

Neben beliebten Fernsehserien (Game of Thrones, Die Simpsons, Friends et al.) geht es in zahllosen Fan-Theorien und ihren nicht immer ganz einleuchtenden "Was wären wenn"-Szenarios folglich vor allem um populäre Figuren wie Harry Potter (oder seinen Freund Ron Weasley, der angeblich ein zeitreisender Dumbledore  ist), um James Bond (bei dem es sich nun plötzlich um einen von unterschiedlichen Figuren benutzten Codenamen  handeln soll) und natürlich auch um traffic-kompatible Superhelden wie Batman, dessen tatsächlicher Vater einer ebenso vieldiskutierten Fan-Theorie  zufolge in Wahrheit Master Alfred sei.

Fan- und Verschwörungstheorie

Die starke Konzentration vieler Fan-Theorien auf Beschäftigungsobjekte, von denen man eigentlich meinen könnte, dass über sie längst schon alles gesagt worden ist, erweitert nicht den Blick auf Film- oder Seriengeschichte, sie schränkt ihn ein. Die Titelfigur aus Ferris macht blau erklären Fan-Theoretiker zur Imagination seines besten Freundes  Cameron, als hätte die Welt über den finalen Twist von Fight Club nicht schon genug schwadroniert. Die männlichen Hauptfiguren aus Jurassic World und Mad Max: Fury Road wiederum glauben sie bereits in früheren Teilen der jeweiligen Kinoserien entdeckt zu haben, weil sich die Filme offenbar noch nicht ausreichend handlungsverschränkt als Sequels und Prequels zu erkennen geben.

Zurück in die Zukunft, der zusammen mit Ghostbusters und den Goonies in gewisser Hinsicht den Beginn einer nostalgisch gedachten Nerd-Filmgeschichte heutiger Thirtysomethings markiert, muss schließlich für besonders infantile Fan-Theorien herhalten: Gar nicht mal so augenzwinkernd behauptet etwa dieses Video  (das nur eines von zahlreichen ähnlich gelagerten auf YouTube ist), Regisseur Robert Zemeckis habe bereits in den 1980er-Jahren die Terroranschläge vom 11. September 2001 vorhergesagt – was man natürlich einerseits als Jux abtun, andererseits als konsequente Verschmelzung von Fan- und Verschwörungstheorie begreifen kann.

"You'll never watch it the same way again!"

Vergleichsweise originelle, nicht auf Fiebertraum-Wendungen oder anderen Unsinn abzielende Ideen wie die sogenannte Pixar-Theorie , laut der alle Filme des Animationsstudios im selben Universum zu verorten sind, kranken hingegen an einer nochmals verengten Form von Plotfetischismus. Ihre Erklärungsmuster haben wenig mit konkreter oder ernsthafter Untersuchung eines Werkes, aber viel mit Verundeutlichung und Trivialisierung zu tun: In der Konstruktion von Kausalität mag sich eine sympathische Sehnsucht nach größeren Zusammenhängen Ausdruck verschaffen, doch die Erkenntnis muss denkbar simpel bleiben – alles ist verbunden und alles ist irgendwie egal.

Die stete Annahme, Filme besäßen Botschaften (oder schlimmer noch: geheime Botschaften), schlägt bereits in der ideologiekritischen Praxis hinreichend absurde Haken, wenngleich diese für gewöhnlich noch ein ernsthaftes analytisches Interesse an ihren Gegenständen signalisiert. Fan-Theorien allerdings operieren von vornherein in einem sensationalistischen Enthüllungsmodus ("You'll never watch it the same way again!"), der Fiktionen verdoppelt und -dreifacht, um über bloße Behauptungen vermeintliche Aussagen treffen zu können: Actually ist das alles so und so, im groß buchstabierten eigentlich liegt schon der Erkenntnisgewinn.

Fan-Theorien ermöglichen es ihren Schöpfern, selbst zu Autoren eigener Lieblingsgeschichten zu werden. Doch wie man auf reddit anschaulich nachvollziehen kann, ist die Lust am kollektiven Um- und Fortschreiben dieser Geschichten zumindest momentan nichts weiter als ein verkrampfter Wettbewerb um Deutungshoheit: In entsprechenden Diskussionen wird nicht über künstlerische Werke, sondern die Plausibilität der sie betreffenden Theorien debattiert – als ebenso sportives wie widersprüchliches Happening, das sich auf merkwürdige Art zwischen der Wertschätzung einer Sache und diskursfeindlichem Bescheidwissen bewegt. Mit starker Tendenz zu letzterem.

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