Das Mysterium Cloverfield - Virale Gänsehaut fürs Kino

10.04.2016 - 08:50 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
Legt euch nicht mit Goodman an: 10 Cloverfield LaneParamount Pictures
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Virales Marketing wird zunehmend eingesetzt, um die Grenzen zwischen Film und Realität zu verwischen. Diese Werbestrategie weiß keiner so perfekt zu nutzen wie J.J. Abrams, Produzent von 10 Cloverfield Lane.
Meine Damen und Herren, wir unterbrechen das Programm für eine wichtige Sondermitteilung. Wie das Observatorium in Chicago, Illinois, berichtet, ereignen sich zur Stunde mehrere weiß glühende Gasexplosionen auf dem Planeten Mars. Dem Spektroskop zufolge handelt es sich um Wasserstoff, der mit enormer Geschwindigkeit auf die Erde zurast.

Mit diesen Worten begann am 30.10.1938, dem Vorabend von Halloween, einer der wohl größten Schelmenstreiche aller Zeiten. Der 23-jährige Orson Welles, ein noch unbekannter Schriftsteller und Radiosprecher, hatte sich daran gemacht, den Science Fiction-Klassiker Krieg der Welten von H.G. Wells als Hörspiel zu adaptieren. Wenn auch die Berichte über die sich anschließende Massenpanik übertrieben  gewesen sein mögen, die Wirksamkeit dieses Bravourstücks bleibt unbestritten:

Die Titelseite der New York Times vom 31.10.1938

Wie kaum jemand zuvor verstand es Welles, die Konventionen des Massenmediums Radio zugunsten einer möglichst großen Breitenwirkung zu unterwandern. So baute er die erste Berichterstattung über die fiktive Alien-Invasion während der Werbepause des Konkurrenten NBC ein, um die vielen Zuhörer, die just in diesem Moment den Sender wechseln würden, bewusst zu verwirren. Außerdem wurde sein Hörspiel in einem Kulturprogramm ohne Werbepausen ausgestrahlt, was den authentischen Eindruck noch verstärkte. Wer den anfänglichen Hinweis verpasst hatte, dass die Ereignisse frei erfunden sind, für den spielte sich im Radio soeben tatsächlich das Ende der Welt ab.

Dieser Publicity-Stunt legte für den jungen Orson Welles den Grundstein seiner Hollywood-Karriere. Wenig später unterschrieb er einen Vertrag mit dem Studio RKO Pictures, für das er im Jahr 1941 sein Meisterwerk Citizen Kane inszenierte. Doch auch heute, wo die Werbekosten so mancher Filme ihre Produktionsbudgets bei weitem übersteigen, ist die Vermischung von Fakt und Fiktion eine wirksame Methode, um selbst mit kleinem Budget die nötige Aufmerksamkeit für einen erfolgreichen Kinostart zu erwerben. Bestes Beispiel ist die Produktionsschmiede Bad Robot Productions, die dieser Tage mit ihrem im Vorfeld verbreiteten Sirenengesang wieder haufenweise Besucher für 10 Cloverfield Lane ins Kino gelockt hat. Dabei ist diese Strategie ein alter Hut, der aber mehr und mehr in Mode kommt.

Nach dem Film ist vor dem Film

Blair Witch Project gilt als der erste Film, der dank einer wirksamen viralen Internetkampagne trotz Mini-Budgets zum phänomenalen Erfolg avancierte. Die geschickte Vermarktung seines pseudo-dokumentarischen Stils im Vorfeld der Kinopremiere erzeugte so viel Wirbel, dass bei anfänglichen Kosten von ca. 25.000 US-Dollar weltweit mehr als 249 Millionen erwirtschaftet wurden. Dieses Ergebnis wirkt umso erstaunlicher, wenn wir bedenken, dass das Internet im Erscheinungsjahr 1999 noch nicht denselben Stellenwert hatte wie heute und es beispielsweise noch keinerlei soziale Netzwerke gab, über die der Film hätte vermarktet werden können.

Doch virales Marketing sorgte nicht bloß dafür, dass zahlreiche Zuschauer Blair Witch Project im Kino sahen, sondern lieferte zudem entscheidende Hintergrundinfos zur fiktiven Entstehungsgeschichte des Films. Auf einer bewusst inszenierten Homepage  wurde behauptet, dass vor einigen Jahren drei Filmstudenten, die die dieselben Namen trugen wie die realen Schauspieler des Films, in den Wäldern Marylands spurlos verschwunden wären und nur ihre Filmaufnahmen geborgen werden konnten. Zusätzlich wurde ein komplexer Mythos um die Hexe Blair gesponnen, inklusive Vermisstenanzeige, gefälschter Zeugeninterviews und Polizeiberichten, die allesamt den Eindruck erwecken sollten, dass der Film auf wahren Begebenheiten basiere. Als Blair Witch Project auf dem Sundance Festival erstmals gezeigt wurde, verteilten die Filmemacher sogar Flyer mit der Aufforderung, ihnen jegliche Hinweise über den Verbleib der drei Vermissten zu melden. Bis zum Kinostart wurde die Homepage über 80 Millionen Mal aufgerufen und auch im Nachhinein gelang die Verschmelzung von Fakt und Fiktion so perfekt, dass es heute noch einige Zuschauer geben soll, die von der Echtheit des Films überzeugt sind.

Fiktive Vermisstenanzeige zu Blair Witch Project

Ach wie gut, dass jeder weiß, dass ich J.J. Abrams heiß

Was das virale Marketing von Blair Witch Project so erfolgreich machte, war die Transplantation des Publikums hinein ins Mysterium des Films, indem suggeriert wurde, das Geheimnis sei nur durch die Beteiligung der Zuschauer zu lösen. Kein moderner Filmemacher weiß diese Strategie besser auszunutzen als J.J. Abrams, und das nicht erst seit der Nostalgiepackung im Vorfeld von Star Wars: Episode VII - Das Erwachen der Macht.

Als die kunstvoll vertrackte Mystery-Serie Lost 2006 nach der zweiten Staffel in die Sommerpause ging, dachten sich die kreativen Köpfe bei Bad Robot etwas ganz Besonderes aus, um ihre Fans bei der Stange zu halten. Mithilfe einer überaus komplexen Marketingkampagne namens "The Lost Experience" wurden die Fans auf eine multimediale Schatzsuche geschickt, die gespickt war von enigmatischen E-Mail-Botschaften, fiktiven Telefonnummern, Werbeclips und Reklametafeln nicht existenter Unternehmen sowie gefälschten Webseiten. Jedes neue Detail erweckte den Anschein, als ob tatsächlich eine reale Verschwörung im Gange wäre. Die Autoren von Lost steuerten sogar einen ganzen Spin-off-Roman mit dem ominösen Titel Bad Twin  bei, der angeblich von einem Passagier des Oceanic Flugs 815 namens Gary Troup geschrieben wurde. Der Name, ein Anagramm für Purgatory (Fegefeuer), spielt auf eine gängige Theorie zur Deutung der Serie an, die damit ironisch widerlegt wurde. Das interaktive Spiel The Lost Experience lieferte die Hintergrundgeschichte zur berüchtigten Hanso Foundation, jener düsteren Organisation, die im Mittelpunkt der Serie steht. Zwar flossen letztlich nur wenige Spieldetails auch in die Handlung der TV-Serie ein, aber die gesamte Mythologie hinter Lost wurde auf diese Weise gekonnt ausgebaut, was den Fans Stoff für zahllose Spekulationen lieferte, um die Wartezeit bis Staffel 3 zu überbrücken.

Fiktive Website der Hanso Foundation

Ähnlich geheimnisumwittert ging es zu, als Bad Robot 2007 mit dem Monster-Found-Footage-Film Cloverfield von Matt Reeves seinen nächsten großen Coup plante. J.J. Abrams, der als Ausführender Produzent fungierte, ließ es sich nicht nehmen, eigens ein Alternate-Reality Game (ARG) auf die Beine zu stellen, das mit immer neuen Verlockungen auf den Kinostart vorbereitete. Alles begann damit, dass im Vorspann zu einigen großen Blockbustern eine merkwürdig verwackelte Video-Aufnahme zu sehen war, die wohl eine Abschiedsparty für einen jungen Mann namens Rob zeigte. Als die Fete jäh von einem unheilvollen Dröhnen unterbrochen wird und die Gäste panisch auf die Straße eilen, stürzt plötzlich der Kopf der Freiheitsstatue zu Boden. Dann reißt das Bild ab. Als einzige weiterführende Information wurde ein Schriftzug eingeblendet: "Vom Produzenten J.J. Abrams. Am 18.01.2008 im Kino." Was zur Hölle?

Dies löste natürlich massive Spekulationen zur möglichen Handlung des Films aus, die J.J. Abrams mit angeblichen Leaks von Arbeitstiteln wie The Parasite, Slusho und Colossus weiter befeuerte. Im Nu fieberten unzählige Fans der Kinopremiere eines Films entgegen, über den kaum etwas bekannt war, von dem niemand wusste, wer darin mitspielte oder gar, welchen Titel er trug.

Abrams schürte die Erwartungen an den Film noch weiter, als er die Webseite  der fiktiven japanischen Bohrfirma Tagruato enthüllte. Darauf wurde für einen neuartigen Softdrink namens Slusho geworben, der angeblich aus einer auf dem Meeresgrund neu entdeckten Pflanzenart hergestellt wurde. Später war in einem zehnminütigen Youtube-Video zu sehen, wie Mitarbeiter des fiktiven Unternehmens nur knapp einem mysteriösen Angriff entkommen. Tagruato ist denn auch jene Firma, für die Rob, der Protagonist von Cloverfield, nach Japan zieht, um für sie an Slusho zu arbeiten. Bienen stechen ja bekanntlich von hinten.

10 Cloverfield Lane erweitert das Cloververse zum Multiverse

Erst zwei Monate vor dem offiziellen Kinostart des zuvor unter dem Decknamen Valencia bekannten und später 10 Cloverfield Lane getauften Nachfolgers wurde der erste Trailer veröffentlicht. Allein das ist in Zeiten der medialen Überflutung schon beachtenswert. Wieder wurden Informationen nur häppchenweise verteilt. Mehr als die Tatsache, dass eine junge Frau (Mary Elizabeth Winstead) und ein weiterer Unbekannter (John Gallagher Jr.) von einem Fremden (John Goodman) in einem Bunker festgehalten wird, weil draußen etwas Fürchterliches passiert ist, gab der Trailer nicht preis. Abrams hat verinnerlicht, dass eine intelligente Werbestrategie heutzutage das wichtigste Kriterium für den Erfolg eines großen Blockbusters ist. Statt das Mysterium bereits in unzähligen Trailern im Vorfeld zu verpulvern, hat er erkannt, dass gerade ein Film wie 10 Cloverfield Lane auf die Unwissenheit der Zuschauer angewiesen ist, wenn er funktionieren soll.

Umso besser, dass es Regisseur Dan Trachtenberg mit seinem eindringlichen Debüt gelungen ist, die Dramaturgie an die Marketingkampagne seines Patrons J.J. Abrams anzukoppeln. Dabei streut er relevante Informationen so sparsam ein wie bei einem Tschechow-Stück. Wie ein Pendel schlägt die Deutungshoheit über die dargestellten Ereignisse bis zum überraschenden Finale immer wieder aus, nur um uns am Ende mit noch mehr Fragen zu entlassen, als wir zu Beginn hatten. Und das ist gut so.

Das ganze Brimborium im Vorfeld des Kinostarts lässt sich mit dem viel beschworenen Zauberwort Immersion vielleicht am besten umfassen. Darunter versteht man die Fähigkeit, den Konsumenten so in die erzählte Geschichte mit einzubeziehen, dass er den Eindruck hat, selbst Teil der dargestellten Realität zu werden, womit er zum Rollenspieler wird, in dessen Person sich die fiktive Geschichte mit seiner eigenen Wirklichkeit vermischt. Auf diese Weise scheint Abrams mit dem Kino in Unbekannte Dimensionen vorzudringen, in denen sich unzusammenhängende Geschichten aus den Genres Fantasy, Science-Fiction und Horror im Kopf des Zuschauers zu einer mystischen Anthologie verbinden, die mehr ist als die Summe ihrer einzelnen Teile.

Derweil tüftelt J.J. Abrams bereits eifrig am nächsten Cloverfield-Coup. Gerüchten zufolge soll es sich dabei um den seit 2012 in Entwicklung befindlichen God Particle von Julius Onah handeln. Wir sind gespannt, welcher Hype uns diesmal ins Kino locken soll.

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