Wenn der kultivierte Feuilleton-Forist im virtuell geführten intellektuellen Schwanzmessen beteuerte, er besitze ja seit Jahren keinen Fernseher mehr, galt diese Aussage lange als der Totschlag-Beleg einer keimfreien, von TV-Schund- und Schande unbehelligten Geisteshaltung. Mittlerweile lässt sich das in den Kommentar-Spalten unter Das Supertalent-Verrissen feierlich vorgetragene Statement auch anders deuten denn allein als intellektuelle Selbstüberhöhung- bzw. Selbstbemächtigung. Denn nicht fernzusehen bedeutet schon lange nicht mehr, jeglicher audiovisueller Unterhaltung abzuschwören, es suggeriert nicht mehr wie früher einen vor einem Bücherregal in einem Ohrensessel pfeiferauchenden Literaturprofessor, der vertieft in einem Opern-Programm blättert. Der Laptop gibt ein viel praktischeres, mobileres multimediales Zentrum her, mit einem Internet-Zugang, der gleichsam Zugriff auf eine Unendlichkeit entrichtet, die sich bequem vom Sofa aus erschließen lässt, anders als die Welt selbst. Und das ganz, wie es dem individualisierten Freigeist beliebt, also wann, wie, in welcher Sprache, in einem Café, im Bett vor dem Schlafengehen, vor einer Schale Cornflakes oder traditionell auf dem Sofa.
Streaming als disruptive Technologie
Nun stellt sich die Frage, ob Streaming-Dienste auf gesellschaftliche Veränderungen lediglich reagiert oder den Fernseh-Markt mit ihrer steten und verlässlichen Verfügbarkeit von Inhalten selber neu geformt haben. Und ob daraus eine Marktnische entstanden ist, die sich hernach immer weiter ausbreitet. Tatsache ist, dass die Bequemlichkeit, sich nicht mehr nach Sendezeiten richten zu müssen und sich minutenlange Werbeblöcke anzutun, dem Zuschauer (oder Nutzer) jetzt nicht mehr auszutreiben ist, speziell den jugendlichen. Und gerade die machen den großen TV-Sendern Sorgen, den die geben nun mal die Trends vor, die irgendwann die Norm sind. Auf Start-Up-Deutsch nennt sich so ein Vorgang Disruption . Von disruptiven Technologien spricht man bei Innovationen (hier Streaming), die eine bestehende Dienstleistung (das Fernsehen) aus einem gemeinsamen Markt verdrängen. Ein disruptiver Vorgang ist abgeschlossen, wenn die Innovation zur Norm geworden ist, also die ehemalige Norm vollständig abgelöst hat. Man könnte auch von technischer Evolution sprechen.
Das traditionelle Fernsehen will natürlich nicht, dass das passiert. Und nicht immer steht am Ende eines disruptiven Prozesses die komplette Verdrängung des alten Produktes, vorausgesetzt, es besteht weiterhin ein Markt, also Nachfrage nach dem alten Produkt. Beim Fernsehen ist das auf lange Sicht mehr als fraglich. Das Fernsehen sieht sich, noch mehr als das Kino, von der subversiven Streaming-Revolution bedroht und daher zu Veränderungen, also eigenen Innovationen, gezwungen, die den Dienst nicht vollkommen umkrempeln, aber durchaus variieren und damit vor einer vollständigen Ablösung schützen. Das Fernsehen passt sich den Entwicklungen, die um es herum geschehen, an. Denn die Streaming-Dienste werden keine Ruhe geben. Im Gegenteil, sie wachsen .
Eine Neuformierung des Angebotes
In den USA haben das die großen Networks wie ABC, NBC und FOX schon lange begriffen. Die Pay-TV-Abonnenten sterben dort nämlich schon seit Jahren weg, aufwendige Serien wie Game of Thrones sind für HBO immer schwerer zu finanzieren , während Streaming-Dienste mit jedem Quartal fröhlich höhere Nutzerzahlen verkünden. Der Trend spricht eine deutliche Sprache. Nun gedeihen bei den Networks erste Strategien zur Gegensteuerung und Neuformierung des Angebotes. Diese Neuausrichtung folgt einer einfachen aber effektiven Denkweise - der, sein Segel in den sich drehenden Wind zu halten. Das Fernsehen sucht seine Rettung nämlich in dem, was ihm gegenüber Streaming-Diensten noch geblieben ist: Der Unmittelbarkeit, dem Live-Event.
Da die Streaming-Dienste den Fiction-Markt vereinnahmen, fuhr vor
allem das Network NBC hier in den letzten Jahren eine groteske Strategie, die
mit einem ebenso grotesken Erfolg entlohnt wurde. Im Dezember 2013 startete NBC erstmals den Versuch, fiktionale Inhalte
live zu senden. Die Show The Sound of Music Live! , eine originalgetreue, live
gespielte und gesendete Adaption des
Richard Rodgers-Musicals aus dem Jahr 1959, zog 18,62 Millionen Zuschauer an. Sie wurde damit zur zuschauerstärksten, nicht-sportlichen NBC-Sendung seit dem
Frasier-Finale im Jahr 2004. Mit dem Live-Event erreichte NBC im Bereich
Fiktion Werte wie in der Prä-Streaming-Ära. Die anderen Sender ziehen in
dem Bereich nach. Ende Januar strahlte Fox sein Musical Grease: Live mit Vanessa Hudgens aus. Über 12 Millionen Zuschauer schalteten ein, eine halbe Werbeminute
war für 330.000 Dollar zu haben. NBC sendete 2014 außerdem sehr erfolgreich
Peter Pan Live! Noch in diesem Jahr wird ABC sein Live-Musical Dirty Dancing
mit Abigail Breslin in der Hauptrolle zeigen. Jedes dieser Events dauert
mindestens drei Stunden. Länger widmen sich die Amerikaner nur einer anderen TV-Show: Dem Super Bowl, bei dem ganz Nordamerika zeitgleich mehrere Stunden gemeinsam vor dem Fernseher verbringt. Das US-Fernsehen will den Super
Bowl-Effekt konservieren und in die Fiktion übertragen.
In
Deutschland ist die Entwicklung auch schon angekommen. Ausgerechnet die Live-Show,
das Show-Fernsehen, also das uralte Fernseh-Format, dem in Deutschland nach der
Einstellung von Wetten, dass..? und schon lange davor sein baldiges Ableben
prophezeit wurde. Dieses Show-Fernsehen wird jetzt zum letzten Strohhalm der
TV-Sender. Auch in Deutschland geht im Fernsehen vor allem der Sport, also
Fußball, dahinter rangieren in den Quoten-Charts solche Serien, die,
demographisch bedingt, in den nächsten Jahren zwangsläufig an Zuschauern
verlieren werden: In aller Freundschaft, Das Traumschiff oder Um Himmels Willen belegen in deutschen TV-Charts jede Woche Spitzenpositionen. Mit der TV-Fiction hat es sich im deutschen Fernsehen wahrscheinlich bald erledigt,
denn Netflix breitet sich hier ja gerade erst aus und Amazon, die mächtige New Economy-Krake, wächst unaufhaltsam.
Stefan Raabs Abgang wird noch richtig wehtun
Gegenüber der Streaming-Konkurrenz bauen auch die deutschen TV-Sender ihr Alleinstellungsmerkmal aus. Der Show-Sektor wächst, Jörg Pilawa und Johannes B. Kerner kommen mit dem Moderieren von Quiz-Shows kaum nach. Das ZDF brauchte deshalb neue Allesmoderierer und kaufte ProSieben seinen Red Carpet-und Schlag den Raab-Mann Steven Gätjen weg. Nachdem ProSieben gerade jetzt Stefan Raabs Erfindungsgeist für eben solche Live-Events (Turmspringen, Stock-Car-Crash Challenge usw. usf.) einbüßte, werden dort im Ressort Unterhaltung die Krawatten eng.
Die einzige Show im deutschen Fernsehen, die tatsächlich Super Bowl-Länge (ca. viereinhalb Stunden) erreichte, war Schlag den Raab. Danach richten mittlerweile andere Sender ihre Show-Abende aus. Die von Gätjen moderierte Show Die versteckte Kamera dauerte letzten Samstag über drei Stunden, Germany's Next Topmodel läuft weitgehend inhaltlos von 20:15 bis 22:30 Uhr. Die Sender dehnen ihre Shows auf epische Längen aus und der Zuschauer denkt, er würde einem großen und wichtigen Ereignis beiwohnen. Warum sonst hatte Gottschalk stets überzogen?
Die Gleichzeitigkeit und das Live-Event
Wenn die Inhalte nicht live gesendet werden, so doch die Reaktionen darauf via Twitter und Facebook. Damit entsteht die Illusion von Gleichzeitigkeit und Unmittelbarkeit. Der Live-Charakter lebt einzig und allein von der Gleichzeitigkeit - sowohl der Gleichzeitigkeit zwischen Geschehen und Rezeption, als auch der Gleichzeitigkeit zwischen Zuschauer und Zuschauer, also dem Gemeinschaftserlebnis, das bei Live-Events auch über hunderte und tausende von Kilometern spürbar ist und was die Streaming-Dienste ohnehin alles gar nicht wollen. Das größte Fernseh-Ereignis der Welt ist aber immer noch der Super Bowl und nicht das Staffel-Finale von Game of Thrones. Das guckt jeder für sich, oder gar nicht, oder irgendwann später, oder im Bett oder vor einer Schüssel Cornflakes.