Die künstlerische Avantgarde bei RTL

19.01.2013 - 08:50 UhrVor 11 Jahren aktualisiert
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User Wolfgang hat uns einen Text geschickt, der sich direkt an Mr. Vincent Vegas Artikel zum Dschungelcamp auseinandersetzt. Wir wollen ihn euch nicht vorenthalten. Erklärt wird, warum sich niemand schämen muss, wenn er das Dschungelcamp schaut.

Während das ZDF mit dem Dreiteiler zur Geschichte des Adlon den Zuschauern so erfolgreich die luxuriöse Welt auftat, dass das Hotel nun restlos ausgebucht ist, schickt RTL die Zuschauer wieder einmal in den Abenteuerurlaub nach Australien. Das weltweit erfolgreiche Format Ich bin ein Star – Holt mich hier raus sorgt auch dieses Jahr für Traumquoten. Die Gegner der Sendung sehen darin den Untergang des Abendlandes, die Fans amüsieren sich über die Schamlosigkeit der Kandidaten. Doch sowohl die sich überlegen glaubenden Zuschauer, die nach Sensationen gieren, als auch die empörten Gegner, die durch konsequentes Wegzappen gegen das Ekel-Fernsehen protestieren wollen, machen es sich zu leicht. In Wahrheit ist das Dschungelcamp das interessanteste TV-Format der letzten Jahre. Es ist nicht weniger als ein intellektuelles Wunder. Ausgerechnet da, wo das Medium Fernsehen sich vorgenommen hatte, nur Trash und Spektakel zu servieren, ist im geistigen Brachland der Fernsehlandschaft etwas Intelligentes hervorgegangen. Was bislang der künstlerischen Avantgarde, den Performance- und Aktionskünstlern, dem postdramatischen Theater gelang, das ist jetzt zum absoluten Mainstream geworden.

Wenn die Kandidaten in den Dschungelprüfungen Mahlzeiten aus Insekten oder Känguruhoden zu sich nehmen sollen oder sie in Tümpeln mit allerhand Getier baden müssen, sodass der Brechreiz bei ihnen wie bei den Zuschauern gleichermaßen hoch ist, erinnert das dann nicht an den Wiener Aktionsmus der 1960er Jahre? Der Wiener Aktionist Hermann Nitsch weidet bis heute Tiere aus, kreiert Blutbäder und matscht unter dem Titel Orgien-Myterien-Theater mit Innereien herum. Sein Kollege Günter Brus fügte sich bei seinen Happenings Verletzungen zu und experimentierte mit seinem eigenen Urin und Kot. Diese Ästhetik ähnelt der des Dschungelcamps sehr. Um Grenzüberschreitung, um die Sichtbarmachung von Verdrängten geht es bei beiden Kunstformen – gewollt oder ungewollt. Nur ist diese Überschreitung heute Teil des Fernsehprogramms.

Mehr: Das Dschungelcamp – eine kulturelle Sensation

Der Skandal wird zur Norm. Die einstige Anti-Ästhetik ist plötzlich chic. Es ist spannend zu sehen, wie die künstlerische Avantgarde, weiterhin um Skandale bemüht, mehr und mehr medial vereinnahmt wird. Die subversiv gemeinte TV-Show Talk 2000 des Aktionskünstlers Christoph Schlingensief ließ sich problemlos in den handelsüblichen Reigen der Talkshows integrieren. Christoph Schlingensief wiederholte lediglich das, was seinen seriöser wirkenden Kollegen schon vor ihm gelang: Er brachte Ingrid Steger zum weinen.

Interessant ist, dass der selige Dirk Bach einmal das Dschungelcamp als das Gorleben der Medienlandschaft bezeichnet hat. Wieder war es Christoph Schlingensief, der im Jahr 2000 auf den Wiener Festwochen eine Aktion mit dem Titel Ausländer raus organisierte, die den durch Jörg Haider angestachelten Rechtsruck in Österreich thematisierte. Christoph Schlingensief baute en minature den BigBrother-Container nach und ließ dort Asylbewerber einziehen, diese konnten dann von den Österreichern per Telefon oder via Internet rausgewählt werden. Daraufhin wurden sie sofort abgeschoben. Bis heute ist unklar, ob es sich dabei um tatsächliche Asylbewerber oder um Schauspieler handelte. Wie wir ja auch beim Dschungelcamp nicht wissen können, was gespielt ist und was nicht.

Ob in der vorletzten Staffel Indira Weis und Jay Khan tatsächlich ihre Liebe nur inszeniert haben und ob Helmut Berger wirklich nicht mehr weiß, was er tut. Christoph Schlingensiefs Container stand mitten auf dem Wiener Opernplatz und das war das eigentliche Skandalon. Christoph Schlingensief wies immer wieder darauf hin, dass außerhalb von Wien auch solche Heime stehen, in denen Asylbewerber auf ihre Abschiebung warten. Er holte sie nun in die Mitte der Gesellschaft. RTL verfährt ähnlich. Die medial Ausgestoßenen sind zwar in Australien geographisch weit weg, aber sie sind uns jeden Abend ganz nah. Die Bewohner des Camps sind zwar keine Asylbewerber, aber sie sind allesamt die Ausgestoßenen der Medienlandschaft. Sie haben Schulden, bekommen keine Jobs mehr, manche wünschen sich noch ein letztes Mal Aufmerksamkeit und nur wenige glauben noch an ein Comeback.

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