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Die schwierige Suche nach der eigenen Identität - Ghost World

29.08.2015 - 09:00 Uhr
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Aktion Lieblingsfilm 2015

Zwischen all den kleinen, wundervollen Indie-Perlen ist Ghost World für mich das funkelndste Kleinod überhaupt. Schon bei der ersten Sichtung, sog er mich komplett ein und ließ mich seitdem nie wieder los. Seine Strahlkraft auf mich hängt an mehreren Faktoren, von denen der entscheidendste wohl die existentielle Grundfrage des Films ist: Was für eine Art Mensch möchte ich in diesem Leben sein? Mit dieser Frage wird man in verschiedenen Lebensphasen, meist verbunden mit einem Umbruch, konfrontiert. Zum ersten Mal, stellt sich der Mensch diese Frage in der Pubertät, wenn er langsam anfängt aus dem Kokon auszubrechen und Dinge kritisch zu hinterfragen. Gleichzeitig entstehen erste große Unsicherheiten ob des eigenen Selbst. Ganz loslassen wird einen reflektierten Menschen aber niemals der Gedanke, ob man nicht auch jemand ganz anderes hätte sein können und die Frage, wie das Leben wohl in diesem Fall verlaufen wäre. Gerade wenn die Jugend allmählich hinter einem liegt und man sich der Endlichkeit des eigenen Daseins bewusst wird, wird die eigene Identität häufig hinterfragt. Oftmals wird das als Midlifecrisis tituliert.

Ghost World beherbergt Charaktere aus zwei unterschiedlichen Lebensabschnitten, die mit gleichen, eben der vorangestellten Frage nach der eigenen Identität kämpfen und sich deshalb trotz des Altersunterschiedes näherkommen.

God, look at all these stupid cunts

Der Fokus der Erzählung liegt allerdings zunächst auf zwei Teenagerinnen, Enid und Rebbecca, von denen vor allem Thora Birch als Enid ein unglaubliches schauspielerisches Talent zeigt. Es ist auch Birch zu verdanken, dass der Charakter der Enid vielschichtig wirkt. Zu Beginn sieht man in Enid ein Mädchen, dass gemein ist, dass sich über Mitschüler verächtlich äußert und auf keinen Fall etwas mit ihnen zu tun haben will. Diese Antihaltung geht sogar so weit, dass sie nicht studieren will, weil das schließlich die ganzen anderen „erbärmlichen Loser“ machen. Diese Antihaltung offenbart sich aber schon sehr bald als der Versuch, die eigene Unsicherheit und Verletzlichkeit zu bekämpfen. Wenn man nicht weiß, wer man selber sein will, definiert man sich eben zunächst über die Ablehnung. Auf der Suche nach der eigenen Identität färbt sie sich einmal die Haare grün und gibt sich als 1977er Jahre Punkerin aus. Allerdings wird dies schon bei der ersten Gelegenheit von einem Bekannten als das aufgedeckt, was es ist: eine Verkleidung. Ihre einzige Verbündete Rebecca entfremdet sich nach Abschluss der Highschool rasend schnell von ihr. Während Rebecca sich in die Gesellschaft eingliedert, einen Job annimmt und eine gemeinsame Wohnung für beide organisiert, scheitert Enid bei selbigem Versuch. Ihr Versuch im Kino zu arbeiten, endet desaströs und sie muss sich eingestehen, dass sie nicht mit Rebecca zusammenziehen will.


He’s the exact opposite of everything I really hate.

Enid ist auf der Suche nach etwas wahrem, echten und erinnert mich damit an Holden Caulfield aus Fänger im Roggen. Als sie Seymour kennenlernt, ist sie fasziniert von ihm, denn sie glaubt, endlich jmd. Gefunden zu haben, der echt ist und sich nicht verstellt. Dabei ist Seymour alles andere als glücklich. Er verkauft am Wochenende alte Schallplatten in seiner Garage und ist ebenfalls unfähig, sich in die Gesellschaft einzugliedern. Er fühlt sich festgefahren und abgesehen von ein paar anderen Schallplattensammelfreaks, fehlen ihm die sozialen Kontakte. Eine Frau gibt es in seinem Leben schon lange nicht mehr, weswegen er sich im Selbstmitleid suhlt. Seine Authentizität, symbolisiert durch seine Plattensammelleidenschaft, die Enid so sehr an ihm schätzt ist, würde Seymour liebend gern gegen die Zuneigung einer Frau eintauschen I don’t want to meet someone, who shares my interests. I hate my interests. Ob dies schon immer so war, oder ob er früher ähnlich wie Enid eine Antihaltung praktiziert hat und ihn erst die Zeit gebrochen hat, erfährt man nicht.

Gleichzeitig kann er aber auch nicht aus seiner Haut. In einer der ergreifendsten Szenen des Films sind Enid und Seymour in einer Kneipe bei einem Blueskonzert. Ein sehr alter Mann spielt, von den Kneipengästen unbemerkt seine traurigen Songs. Seymour ist der einzige, der ihn zu kennen scheint und sogar eine Schallplatte dabei hat, die er unterschreiben lassen möchte. Enid spielt für Seymour den Kuppler und sorgt dafür, dass Seymour mit einer attraktiven Blondine ins Gespräch kommt. Sie reden über Blues und die Blondine offenbar ihre Vorliebe für die Hauptband Blueshammer, die den alten Mann alsbald ablöst und tituliert sie als authentische Bluesband. Kaum fängt die Band an zu spielen, sind alle Kneipenbesucher, die zuvor nur gequatscht und getrunken haben wie elektrisiert, stehen auf und tanzen. Alle außer Seymour. Denn Blueshammer werden dem Zuschauer aus seiner Sicht präsentiert und man sieht eine laute, Showband, die absolut nichts mit dem ursprünglichen Bluesgedanken zu tun haben. Dies ist der Punkt, wo Seymour seinen Fatalismus erkennt. Es ist ihm zuwider sich gegen seinen Geschmack und seine Überzeugung der Masse anzupassen, um ein leichteres Leben und Erfolg bei einer Frau zu haben.

Neben diesen wunderbar porträtierten Charakteren, den existenziellen Fragen und den wunderbaren Schauspielern, gibt es aber noch jede Menge andere Dinge zu entdecken. So liefert Ghost World nebenbei noch eine beißende und zugleich extrem amüsante Kritik an der Beliebigkeit von moderner Kunst. Fernab von blöden Klischees und kitschigen Romantikeinlagen, gibt Ghost World einen kurzen und interessanten Einblick in die Adoleszenz einer Teenagerin, die sich gerade mitten in der Selbstfindungsphase befindet. Ghost World ist mal witzig, mal melancholisch, mal bitter, mal desillusionierend, aber immer intelligent und authentisch. Während viele andere High-School-Filme vor allem die Melancholie und das Nachtrauern der eigenen Jugend bedienen, behandelt Ghost World existentielle Fragen. Das hebt ihn meiner Ansicht nach von vielen anderen, ebenfalls wundervollen Filmen ähnlichen Settings ab.

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Dieser Community-Blog ist im Rahmen der Aktion Lieblingsfilm 2015 entstanden. Wir bedanken uns ganz herzlich bei allen Medienpartnern und Sponsoren für diese Preise:



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