"Dreeaaams are my reality": Wenn Held*innen träumen

05.07.2015 - 10:00 Uhr
Ein Traum von vielen: Neverending Nightmares
Infinitap Games
Ein Traum von vielen: Neverending Nightmares
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Wir alle träumen: Dieser natürliche Prozess ist Teil unseres Biorhythmus und sorgt dafür, dass uns im Alltag nicht der Schädel platzt. Auch unsere virtuellen Held*innen träumen hin und wieder — aber wieso eigentlich? Und was?

Auf den ersten Blick mag es eine banale Frage sein, doch erfahrungsgemäß verbergen sich ausgerechnet hinter den offensichtlichen Selbstverständlichkeiten meist die spannendsten Überlegungen: Der gleiche Teil meines Hirns, der sich vor zehn Jahren fragte, wieso Pokémon-Trainer Ash Ketchum niemals die Toilette benutzen muss oder wann Harry Potter eigentlich notwendigen Muggel-Kram wie "Rechtschreibung & Grammatik" gelernt hat, grübelte nun über Träume und Videospiele nach.

Der Blick eines Jungen, der zehn Jahre lang keinen Harndrang verspürte.


In den vergangenen Wochen habe ich meinen Feierabend genutzt, um einige Spiele aus meiner Steam-Bibliothek nachzuholen und auch auf die angehäuften Empfehlungen meiner Freunde zu hören. All diese Spiele teilten sich zufälligerweise eine Gemeinsamkeit: Träume spielen in ihnen eine wichtige Rolle.

"Dreams are my reality"

Als erstes knüpfte ich mir das ziemlich einmalig aussehende Neverending Nightmares  vor, dessen Abspann ich auch nach einigen Anläufen noch nicht gesehen hatte — das wollte ich nun ändern.

Matt Gilgenbach, der Entwickler des Spiels, musste in seiner Karriere einiges durchmachen: Sein erstes Projekt Retro/Grade  war ein kommerzieller Flop und brannte ein riesiges Loch in den Geldbeutel des jungen Mannes. Der Misserfolg hinterließ allerdings noch tiefere Spuren und stürzte Gilgenbach in eine schwere Depression. Sein nächstes Projekt Neverending Nightmares  war ein Befreiungsschlag und gleichzeitig der Versuch, seine innere Unruhen zu verarbeiten. Vor diesem Hintergrund ergibt die morbide, kontrastreiche Welt Sinn, in welcher der namenlose Protagonist erwacht und auf der Suche nach einem Ausweg immer wieder Monstern und anderen Gefahren begegnet.

Bizarre Erscheinungen und seltsame Wesen begegnen euch ständig.


Wie selbstverständlich widersetzt sich Neverending Nightmares ständig den Regeln der Logik, die wir aus unserer Welt kennen: Immer wieder erwachen wir im selben Raum, Gänge und Zimmer verändern ihre Architektur, sobald wir ihnen den Rücken zukehren. Erklärungen dafür liefert das Spiel nicht, stattdessen wird der namensgebende Albtraum zur spielbaren Realität deren Ausgang wir suchen müssen.

Gefangen im Schlaf

Auch Mary Woke Up Today, das von der österreichischen Studentin Sarah Hiebl entwickelt wurde, präsentiert eine ähnlich funktionierende Traumwelt, die ganz selbstverständlich eigene Regeln aufstellt und euch damit konfrontiert. In ihrem Spiel schlüpft ihr in die Haut der Titelheldin Mary, die in ihrer Traumwelt gefangen ist und einen Weg an ihren fürchterlichsten Ängsten vorbei zum Wach-Zustand zurückfinden will.

Die Idee zu dem Spiel schwirrte mir schon länger im Kopf herum. Ich beschäftige mich auch schon seit meiner Kindheit mit dem Thema 'Traum', weil es mir gerade als Kind sehr schwer fiel, die Grenze zwischen Traum und Realität zu ziehen.

Sarah erklärt, dass sie bereits als Kind damit begann, luzid zu träumen — also ganz bewusst ihre Träume formen und beeinflussen konnte. Diese Erfahrung wirkt bis in ihr Spiel nach, das ihr kostenfrei auf gamesjolt.de  herunterladen und selber einmal ausprobieren könnt (Ja, das ist eine Empfehlung!).

Der handgezeichnete Grafikstil harmoniert beeindruckend gut mit dem Traum-Thema.


In dem handgezeichneten Spiel wurde ich mit einer surrealen Selbstverständlichkeit mit verstorbenen Verwandten und personifizierten Ängsten konfrontiert. Ich erfahre nicht, wie Marys echtes Leben aussieht, doch nachdem ich das Spiel innerhalb weniger Minuten beendet hatte, wusste ich unheimlich viel über ihre Träume und Ängste — und damit auch einiges über Mary selbst.

Beiden Spielen ist gemein, dass sie völlig selbstverständlich eine Traumwelt etablieren und uns mit ihren eigenen Regeln herausfordern. Das bietet die Grundlage für sehr surreale Spielerlebnisse, die als sichere Zone zur Orientierung nur das Hauptmenü kennen. Dieser sehr wirkungsvolle Ansatz, eine Traumwelt als einzige Spielwelt zu etablieren, findet in der kommerziell aufwändigen Spielkultur der AAA-Blockbuster erstaunlicherweise nur wenig Widerhall.

Traumwelten als Gegenwelten

Wenn ich gedanklich die AAA-Spiele durchgehe, die ich im letzten Jahr für längere Zeit gespielt habe, so fallen mir tatsächlich einige Titel ein, die ihre Held*innen träumen lassen — zumindest vorübergehend.

Viele von uns werden vermutlich Wolfenstein: The New Order  gespielt haben, das als überraschend unterhaltsamer Shooter ordentlich Genre-Staub aufwirbelte. Zwar dürfen wir als Supersoldat Blazckowizc entlang des Handlungsstrangs niemals träumen, doch wartet ein besonderes Easter Egg auf uns, sobald wir einen bestimmten Schlafsack im Spiel "benutzen": Ein Spieldurchlauf des ersten Wolfenstein-Spiels überhaupt.


Auch die Traumsequenz aus Metal Gear Solid 4: Guns of the Patriots  wird als Hommage an die Vergangenheit des Franchises genutzt und durchbricht auch hier die vierte Wand zum Spieler: Während eines Helikopterflugs träumt Snake von einem Schleichlevel, den wir in feinster Pixelgrafik selbst noch einmal erleben dürfen.

Fans freuen sich natürlich über diesen weitsichtigen Service der Entwickler, doch innerhalb der Spielwelt verhallt die Sequenz ohne Folgen. Wir lernen hier nichts neues über den Protagonisten, sondern dürfen eine kleine, hübsch verbaute Demo aus alten Tagen spielen. Das ist nicht schlimm, sondern höchstens einseitig.


Spiele wie Batman: Arkham Asylum  oder Max Payne  gehen hier einen Schritt weiter. In den kurzen, oft einmaligen Albträumen werden neue Gameplay-Features vorübergehend in den Vordergrund gerückt (Batmans Kampf gegen den übergroßen Scarecrow) oder die Chance genutzt, die natürliche Barriere zwischen Spieler und Spiel aufzubrechen (Max Payne beginnt zu glauben, dass er nur eine Comic-Figur ohne freien Willen ist).

Zwar sind das nur wenige Beispiele aus einer unübersichtlichen Masse an Spielen, doch die Tendenz ist erstaunlich offensichtlich: Videospielheld*innen träumen alles andere als selten. Die Zielgruppe und versenktes Budget allerdings bestimmten, ob Träume nur als Sequenzen einer Gegenwelt auftauchen, in die wir eintauchen müssen, um Schlüssel X zu finden oder Fähigkeit Y zu erlernen, oder ob Traumwelten eigenständig und als einzige Alternative existieren, die das surreale Unterhaltungsprogramm vom Hauptmenü bis zum Abspann aushalten.

Auch der mächtige Editor "Dreams" wurde als Übersetzungsprogramm eurer surrealen Träume beworben


Überraschend ist für mich der hartnäckige Eindruck, dass Träume als positive Momente der Entspannung oder Ruhe nur selten in Spielen verbaut werden. Eine prominente und offensichtliche Ausnahme sind hier die Spiele des LittleBigPlanet -Franchises, die Traumwelten als kreative Spielplätze zu ihrem Hauptfeature gemacht haben. Auf der anderen Seite wurde sogar der Baukasten-Editor Dreams  auf der diesjährigen E3 als "Möglichkeit, eure surrealsten Albträume nachzubauen" beworben.

Ich habe nun schon lange auf diesem Thema herumgedacht und früher oder später lande ich immer bei dieser Erkenntnis. Sobald meine Hirnwindungen diesen Punkt allerdings erreichen, wünschte ich mir, dass sich häufiger Entwickler die Worte des Sängers Richard Sanderson zu Herzen nehmen würden, der vor über 30 Jahren die Zeilen seines One-Hit-Wonders "Reality" ins Mikrofon brüllte:

Dreams are my reality / The only kind of real fantasy / Illusions are a common thing / I try to live in dreams / It seems as if it's meant to be.

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