Ein Liebesfilm sollte immer ein Ereignis sein!

29.06.2019 - 09:00 UhrVor 5 Jahren aktualisiert
I wish everyone was as sick as you
Sony/moviepilot
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In einem wahren Liebesfilm spürt, riecht, schmeckt ihr Liebe, erlebt ihr sie mit jeder Faser eures Körpers und glüht noch Stunden danach. Wie nach einem Sommertag, wie nach Call Me By Your Name.

Wisst ihr, wie ein wahrer Sommertag sein sollte? Er sollte euch, von dem Moment, an dem ihr eure Augen öffnet, keine Wahl lassen, ob ihr ihn erlebt, ganz gleich wo, ganz gleich wie. Er sollte da sein, unausweichlich, unerbittlich, in allem was ihr spürt, seht, hört und schmeckt, denn ihr sollt ihn erleben. Er sollte euch ergreifen, mitreißen, wohin er euch auch führen will und nicht mehr loslassen. Er sollte brennen, mehr noch: Er sollte jede eurer Fasern zum Brennen bringen. Noch nachts, wenn die Sonne längst fort ist, sollt ihr im Bett liegen und an ihrer Statt glühen! Denn am Ende dieses Tages seid ihr der Sommer.

Genau so sollte auch ein echter, ein wahrer Liebesfilm sein. Er sollte euch glücklich machen und nach Atem ringen lassen, auch wenn er euch nicht glücklich und atemlos zurücklassen muss. Ein Film über Liebe sollte so viel mehr sein als nur über das Verknalltsein. So viel mehr als nur über Körperlichkeit, den Moment, die Euphorie. Nach einem Film über Liebe sollt ihr brennen! Genau so wie nihilisticguy94, nachdem er Call Me By Your Name sah.

Der Kommentar der Woche von nihilisticguy94 zu Call Me By Your Name

Ein Ereignis

Als ich gestern das Kino verlassen hatte, den Film zum zweiten Male geschaut habe, zitterte mein ganzer Körper. Überwältigt von der puren Schönheit jeder einzelnen Einstellung, von der Radikalität der Liebe. Ich hatte die italienische Sonne auf meiner Haut gespürt, die mediterrane Luft gerochen, die Aprikose geschmeckt. Für zwei Stunden war mein Körper aus Raum und Zeit völlig entrückt. Das schafft nur herausragende Literatur und Kino.

Dies ist mit Sicherheit einer der besten Liebesfilme des Jahrzehnts. Hier treffen zwei Menschen aufeinander, zwei Körper aber auch zwei Geister. Denn dieser Film verbindet leidenschaftliche Sexualität mit dem tiefsinnigen Intellektuellem, sinnliche Erotik mit lebendiger Kultur.
Selten im modernen Kino würde Körperlichkeit zu hervorragend dargestellt (Bsp. Herzensbrecher von Xavier Dolan). Nicht nur die Körperlichkeit der Menschen, sondern auch der meist hellenistischen Statuen, die auch immer wieder auftauchen. Dabei zeigt der Film nicht bloß diese Statuen aus ästhetischen Gründen und spielt nicht nur klassische Musik, weil sie schön klingt. Nein, dieser Film lebt die antiken und klassischen Ideale in jeder einzelne Szene!

Welchem Geschlecht die Körper angehören ist in diesem Film zweitrangig. Es gibt Sex zwischen Mann und Frau, Mann und Mann, und Mann und einer Aprikose. Den Gefühlen jeder Person wird in diesem Film Platz gegeben. Das macht den Film so humanistisch. Zwar liegt der Fokus des Films auf der Liebesbeziehung zwischen zwei Männern, jedoch werden die Beziehungen zu den Frauen, die fast ebenso erotisch und intensiv sind, nicht als Hindernis betrachtet.
Dies ist kein typischer Problem-Film. Bis auf die letzten 10 Minuten herrscht allumfassende Harmonie. Das wurde oft kritisiert. Doch sein wir ehrlich: Gibt es nicht genug Problem-Filme? Wobei die meisten nicht mal Lösungen anbieten können. Dieser Film ist eine erfrischende Abwechslung in der oft zu tristen Kino-Landschaft.

In meiner Kritik zu Shape of Water - Das Flüstern des Wassers habe ich kritisiert, dass so viele Filme im Moment ihre Handlung in die Vergangenheit legen, um sich somit vor der Gegenwart zu drücken.
Call me by your Name spielt ebenfalls in der Vergangenheit, in den 80ern. Aber hier finde ich die Entscheidung sehr gut. Zum einen basiert dieser Film natürlich auf einer Romanvorlage, zum anderen: Hätte diese Liebesgeschichte wirklich im Zeitalter von totaler Vernetzung, von ständiger Erreichbarkeit, von Gindr und Tinder funktioniert? Ich glaube nicht. Sie hätten ihre Facebook-Profile überprüft, sich gegenseitig ständig auf Whatsapp geschrieben... Die Liebe hätte nicht mal Zeit gehabt sich zu entwickeln. Es wäre nur ein schneller Fick gewesen. Die allumfassende Digitalisierung macht eben nicht nur die Liebe fast unmöglich, sondern auch den echten Liebesfilm.

Was uns hier im Film präsentiert wird ist ein Ereignis im zizekischem Sinne. Eine überraschende, außergewöhnliche, wunderbare Begebenheit, deren „Effekt ihre Gründe zu übersteigen scheint“, und sich anschickt die umliegenden Rahmen des status-quo zu sprengen.
Die Liebe, die hier gezeigt wird, ist eine wahre Liebe, verbunden mit tiefer Obsession, sowohl körperlicher als auch seelischer Natur, und auch mit dem Schmerz, der unweigerlich auf das Sich-Verlieben folgt. Dieser Sturz, so Zizek, welcher auch durch ganz viele Sprachen ausgedrückt wird (falling in love, tomber amoureux, وقع في حبها , 恋に陥る ) wird in vielen Geschichten heute weggelassen. Es gibt keinen Sturz mehr, es folgt kein schmerzhafter Aufprall mehr. Doch genau dieses destruktive Element zeichnet Liebe aus. Schmerz macht aus bloßem Verknallt-Sein wahrhaftige und radikale Liebe.
Und diesen Schmerz muss man aushalten, sagt der Vater im einem der besten Monologe des letzten Filmjahres. Mann muss ihn ertragen, man darf nicht sein Herz aus Angst verhärten. Viel eher sollte man sich glücklich schätzen, dieses wertvolle Gefühl verspürt zu haben. Denn Liebe ist nur ganz wenigen Menschen vorenthalten. Es ist wirklich ein außergewöhnliches Ereignis.

Schaut euch bitte diesen Film an! Ich lasse die Ausrede „Öhh, ich bin doch nicht schwul, was hab ich damit zu tun?“ nicht gelten. Was hat euer Leben mit Super-Helden, Spionen, Zombies, Königen und Außerirdischen zu tun?

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