Everybody's Gone to the Rapture & der Blick zum Wegesrand

19.05.2016 - 18:04 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
Everybody's Gone to the Rapture
Sony Interactive Entertainment
Everybody's Gone to the Rapture
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Seitdem ich nach Berlin gezogen bin, gehört sexuelle Belästigung zu meinem Alltag. Doch Everybody's Gone to the Rapture half mir auf auf eine sehr unerwartete Weise, damit umzugehen.

An manchen Tagen ist jeder Gang vor die Tür ein Kampf — gegen ein beklemmendes Gefühl, gegen Abscheu, manchmal auch gegen Angst. Denn draußen werde ich regelmäßig sexuell belästigt. Männer starren mich penetrant an, kommen mir zu nah und lassen oft nicht locker, wenn ich sie zurückweise. Wie mir Everybody's Gone to the Rapture half, damit umzugehen, möchte ich euch hier erzählen.

Ich schätze mich als einen Menschen ein, der ein dickes Fell hat und mit Anfeindungen wie Beleidigungen oder bösen Blicken sehr gut umgehen kann. Probleme habe ich hingegen mit zwischenmenschlicher Nähe. Wenn ich in einem Club bei jeder Bewegung andere Menschen berühre, kann ich das Feiern nicht genießen. Wenn ich in rappelvollen Bahnen stehe, versuche ich so viel Distanz wie möglich zwischen mich und meine Mitmenschen zu bringen. Seitdem ich nach Berlin gezogen bin, mache ich aber auch einen großen Bogen um viele Leute, wenn ich einfach nur auf der Straße unterwegs bin.

Everybody's Gone to the Rapture

Denn wenn ich meine Wohnung verlasse, muss ich immer darauf gefasst sein, mit unglaublich blöden Anmachsprüchen konfrontiert oder von Männern verfolgt zu werden. Beim Feiern oder in U-Bahnen fassen mich Fremde einfach an. Sie fragen mich auf offener Straße nach Geschlechtsverkehr und pfeifen mir hinterher. Wehre ich mich verbal, lachen sie mich aus, rufen mir Worte hinterher, die ich hier nicht wiederholen möchte, oder bedrohen mein Leben. Das ist für mich trauriger Alltag.

Ich könnte zwar umziehen, aber leider sind Wohnungen in Berlin hart umkämpft und schon lange nicht mehr so erschwinglich, wie sie vor Jahren mal waren. Außerdem mag ich meine Wohnung und mein Viertel, es sind einige der dort lebenden Menschen, die mir mein Leben vermiesen. Ich musste also Wege finden, um mit der täglichen Belästigung fertig zu werden. Ich lächelte draußen nicht mehr einfach in mich hinein oder ließ meinen Blick schweifen, weil Männer das als Flirtversuch missverstanden. Ich hörte laut Musik, damit ich dumme Sprüche nicht mehr hörte und spürte trotzdem, wie Blicke meinen Körper entlangwanderten. Um Angriffen entgegenzuwirken, baute ich mich krampfhaft zu voller Größe auf und fixierte meine Augen auf unbestimmte Punkte in der Umgebung. Irgendwann ging ich durch meinen Stadtteil, ohne dabei wirklich etwas wahrzunehmen.

Eine Weile halfen mir diese Maßnahmen. Irgendwann spürte ich aber, dass es mir nicht gut tat, wenn ich mir zum eigenen Schutz Scheuklappen anlegte. Irgendwann wollte ich auch einfach nicht mehr nach draußen gehen, weil mein Körper von Fremden auf eine Weise wahrgenommen wurde, die mich anwiderte. Ich hatte Angst und war gleichzeitig wütend darüber, dass diese Menschen mein Leben derart einschränkten.

Everybody's Gone to the Rapture

Videospiele sind für mich — neben Beruf und Leidenschaft — ein Zufluchtsort. Wenn mich die Realität überfordert, ziehe ich mich in virtuelle Welten zurück. Dort kann ich Probleme wie tägliche sexuelle Belästigung eine Zeit lang hinter mir lassen. Dass ich dabei auf Everybody's Gone to the Rapture stieß, war purer Zufall. Es schlummerte schon eine Weile auf meiner Konsole und stand ganz einfach als nächstes auf meiner Liste. Ich ahnte nicht, dass es meine Rettung sein sollte.

Everybody's Gone to the Rapture nahm mich nicht an die Hand und es schrieb mir nicht vor, was ich zu tun hatte. Es gab keine (Mini-)Map, die immer meinen Standort anzeigte, und keine Marker, die mir bei der Orientierung halfen. Ich fand mich in einem menschenleeren Städtchen irgendwo im ländlichen England mit einem Kopf voller Fragen wieder: Was war mit den Bewohnern passiert? Was hatte ich zu tun? Wo war ich überhaupt genau?

Hätte ich mich in in Everybody's Gone to the Rapture genauso verhalten wie in der realen Welt und mir Scheuklappen angelegt, hätte ich die Antworten niemals erfahren. Denn im Spiel steht die Erkundung der Umgebung im Mittelpunkt. Überall darin verstreut finden sich Bruchstücke der Geschichte: Radioübertragungen, Echos aus der Vergangenheit und Telefongespräche geben langsam Aufschluss über das mysteriöse Ereignis, das sich in der vermeintlichen provinziellen Idylle abgespielt hat. Nicht nur zur Orientierung musste ich also ganz genau auf die Spielumgebung achten. Mir wurde außerdem klar, wie viele Dinge ich im realen Leben verpasste, weil ich mich aus Selbstschutz auf das Wegschauen konzentrierte.

Everybody's Gone to the Rapture

Everybody's Gone to the Rapture gab mir nicht nur ein Gefühl von Sicherheit, weil es mir eine Welt bot, die ich ohne Einschränkungen erkunden konnte. Die ländliche Umgebung mit ihren Kornfeldern, den Strommasten, dem vielen Grün und dem Feriencamp erinnerte mich an meine Heimat. Dort kann ich mich ohne Angst oder ein beklemmendes Gefühl bewegen und habe immer Menschen um mich, die für mich da sind.

Nach meinen ersten Spielstunden stand ich morgens vor meiner Wohnungstür und sprach mir mal wieder Mut zu. Ich rechnete damit, dass es ein Tag wie jeder andere werden würde. Ein Tag, an dem ich wieder mit dummen Sprüchen und Schlimmerem konfrontiert werden und mich schutzlos fühlen würde. Trotzdem merkte ich, dass ich auf meinem Arbeitsweg nicht mehr krampfhaft ins Leere starrte. Stattdessen schaute ich mich um. Ich fragte mich, ob das fantastische Graffiti schon immer da oben an der Hauswand gewesen war, seit wann es das neue Restaurant auf der anderen Straßenseite gab und wie mir diese hübsche Hausfassade bloß entgehen konnte.

Everybody's Gone to the Rapture hat mir gezeigt, wie viel Wichtiges und Schönes ich verpasse, wenn ich nicht auf meine Umgebung achte. Das Verhalten von einigen meiner Mitmenschen ändert sich dadurch natürlich nicht. Nach wie vor benehmen sich Männer mir gegenüber unmöglich und damit klar zu kommen, zerrt manchmal immer noch unglaublich an meinen Kräften.

Everybody's Gone to the Rapture

Das schlechte Gefühl in meiner Magengrube nachts auf dem Nachhauseweg geht dadurch nicht weg. Auch die Abscheu und Angst, gegen die ich vor dem Verlassen meiner Wohnung manchmal ankämpfe, lösen sich deshalb nicht in Luft auf. Aber ich lasse mich nicht mehr von ihnen beherrschen. Dank der Erfahrungen, die ich in Everybody's Gone to the Rapture gemacht habe, lasse ich es nicht mehr zu, dass das Verhalten dieser Menschen mich Zuhause einsperrt und meine Wahrnehmung einschränkt.

Ich schotte mich nicht mehr von meiner Umwelt ab, in der es so viel zu entdecken gibt. Stattdessen ignoriere ich die Menschen, die mir meine Existenz mit ihren dummen Sprüchen und ihrem unmöglichen Benehmen madig machen. Mit der sexuellen Belästigung umzugehen, ist immer noch nicht einfach, aber der ständige Kampf lohnt sich. Und an guten Tagen bewege ich mich genauso frei durch die reale Welt wie ich es in Everybody's Gone to the Rapture getan habe.

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