Fallout 4 ist gut, aber anders als Bethesda es wollte

13.11.2015 - 14:00 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
Weltuntergang gut, alles gut?
Bethesda Softworks
Weltuntergang gut, alles gut?
7
5
Meine Zeit im Ödland des Commonwealths neigt sich dem Ende und ich ziehe mein großes Fazit. Kann Fallout 4 sich von dem schwachen Beginn erholen oder bleibt das großangelegte Rollenspiel von Bethesda wirklich hinter den Erwartungen zurück?

Meine ersten Stunden mit Fallout 4 waren viel anstrengender und zäher als es notwendig gewesen wäre und das habe ich dem Spiel in meinem Ersteindruck auch angekreidet. Doch nun sind zig weitere Stunden in meinen Spielstand geflossen und ich verrate euch, ob sich Fallout 4 noch bessert oder ob sich das Design-Chaos durch das gesamte Rollenspiel zieht. Eines kann ich euch aber schon jetzt verraten: Ich kann einfach nicht aufhören zu spielen.

"Aber Hannes", werdet ihr jetzt sicher sagen, "wenn du nicht aufhören kannst zu spielen, dann bedeutet das doch, dass du das Spiel magst und Bethesda alles richtig gemacht hat!"

Alles zu seiner Zeit

Naja, ganz so einfach ist es leider nicht. Aber ja, ich gebe hiermit feierlich bekannt, dass Fallout 4 sein tatsächliches Potenzial erst nach dem drögen Einstieg findet. Dass dies bei mir fast 10 Stunden gedauert hat, ist aber dennoch ein Unding, das nicht einfach hingenommen werden sollte. Für Spieler, die nur abends etwas Zeit für das Ödland haben, kann es womöglich eine ganze Woche dauern, bis die anfängliche Überforderung endlich nachlässt. Aber meine Standpauke zum Beginn von Fallout 4  könnt ihr ja gesondert nachlesen.


Dieses Review konzentriert sich hingegen auf alles, was danach kommt und die Dinge, die Bethesda abseits des Intros gut und weniger gut erledigt hat. Um aber gleich mit einer besonders steilen These einzusteigen, stelle ich hier die Behauptung auf, dass Fallout 4 nicht nur das bisher beste Fallout-Spiel der Bethesda-Ära ist, sondern auch die The Elder Scrolls-Ableger überflügelt. Den Sonderling The Elder Scrolls III: Morrowind würde ich hier aber ausnehmen, da die moderne Bethesda-Formel für mich erst mit The Elder Scrolls IV: Oblivion eingesetzt.

Das Problem an dieser Behauptung ist allerdings, dass Bethesda viel dafür tut, die besondere Qualität von Fallout 4 durch falsche Ambitionen zu verschleiern. Teilweise hatte ich das Gefühl, ich stehe gemeinsam mit dem Publisher in dessen neuer Wohnung, die mir wirklich gut gefällt. Und dann fängt Bethesda an die Vorzeige-Immobilie mit Spiegelwänden, Bärenfellen und 16 Kronleuchtern pro Quadratmetern einzurichten. Es gibt so viele Dinge in Fallout 4, die das Spiel in eine unnötige Richtung zerren, die zudem noch vollkommen verfehlt wird.

Ich will was, was du nicht willst

Das beste Beispiel für diesen Punkt ist die Präsentation der Hauptgeschichte von Fallout 4, die ich schon in meinem Ersteindruck kritisiert hatte. Anders als in den bisherigen Bethesda-RPGs hat die weibliche Spielfigur, die ich mir zu Beginn vor dem Spiegel zusammen geschminkt habe, eine eigene Stimme und wählt ihren Tonfall sowie ihr Auftreten in den Dialogen des Spiels selbst. Rosalinde, so der Name der verzweifelten Mutter, mit der ich im Commonwealth nach ihrem Sohn Shaun suche, repräsentiert nicht mich und meine Spielweise, sondern ihren eigenen Leidensweg.

Meine Heldin hört auf den Namen "Rosalinde"

Das ist kein schlechter Ansatz, doch er passt absolut nicht zu dem Spielgefühl, das Fallout 4 mir durch seine Spielmechaniken aufdrängt. Während das Spiel ständig dazu einlädt, Nebenquests anzunehmen, das Ödland zu erkunden, das Crafting-System auszureizen und mich in Kleinigkeiten zu verlieren, gaukelt mir Rosalinde ständig vor, dass sie mit Inbrunst und unter Zeitdruck nach ihrem Kind sucht. Alles, was sich Rosalinde in Fallout 4 vornimmt, entscheide ich, doch auf die Motivation meiner Figur habe ich keinen Einfluss.

Jegliche Emotionalität wird durch diesen Widerspruch zerrissen. Was bei den The Elder Scrolls-Ablegern durch das "Du bist der Auserwählte"-Motiv noch aufgefangen wurde, weil meine Figur auf einer persönlichen Ebene nicht involviert war, klappt in Fallout 4 durch die intrinsische Motivation Rosalindes nicht mehr. Ich vergesse ständig, auf welchem Stand sich die Hauptquest eigentlich befindet, weil ich in der Zwischenzeit Dörfer gebaut, Banditen gemordet und Kaffeebecher gestohlen habe. Doch kaum kehre ich zur Storyline zurück, werde ich mit Gefühlen und Sehnsüchten konfrontiert, die meine Figur und ich nicht teilen.

Weniger ist nicht mehr

Das Problem wird noch dadurch verstärkt, dass Fallout 4 auf ein simplifiziertes Dialogsystem setzt, das mir den Wortlaut meiner Antworten nicht anzeigt, sondern nur eine stichpunktartige Zusammenfassung des Inhalts. So wird aus "Nicht mit Antwort zufrieden geben" eine Flut aus hastigen Beleidigungen, obwohl ich dachte, ich bohre investigativ nach. Die oberflächliche Persönlichkeit von Rosalinde lässt mich Dinge formulieren, die ich nie gesagt hätte. Wer ist denn nun der Protagonist von Fallout 4: Rosalinde oder ich?


Bethesda möchte eine große Geschichte erzählen. Sie soll uns packen und rühren, es funktioniert aber nur selten. Dabei sind vor allem die Nebenquests (Minutemen!), die wir für die unterschiedlichen Fraktionen bestreiten, interessant geschrieben und abwechslungsreich. Und weil Rosalinde hier keinen persönlichen Hintergrund hat, funkt sie mir in meiner Spielerfahrung nicht dazwischen. Am besten funktioniert die überzeichnete Fallout-Reihe aber immer noch, wenn sie nicht auf Dramatik setzt, sondern auf Zynismus und schwarzem Humor. Das geschieht in der Hauptquest ebenfalls, nur setzt Bethesda angesichts der eigenen Ambitionen andere Prioritäten.

Aber es ist nicht nur das ungewollte Eigenleben meiner Spielfigur, die der gefühlvollen Geschichte von Fallout einen Strich durch die Rechnung macht. In technischer Hinsicht ist das Rollenspiel nämlich eine kleine Katastrophe. Trotz langer Entwicklungszeit und den Erfahrungen aus Oblivion, Fallout 3 und The Elder Scrolls V: Skyrim, wirkt auch Fallout 4 wie ein besseres Marionettentheater. Die Figuren sind hölzern animiert, die Mimik beschränkt sich auf bewegliche Lippen (die asynchron zur Tonspur agieren) und in den deftigsten Dialogen, die das Spiel zu bieten hat, stellen sich die Figuren auf Tische, Betten oder verschwinden gleich in der Wand.

Anders als die Glitches aus Assassin's Creed Unity reißen mich diese Fehler aber nicht aus der Immersion und sind deswegen so ärgerlich. Vielmehr gehört die Puppenhaftigkeit der Bethesda-Charaktere zum Charme von Fallout 4, aber eben nicht in Kombination mit gehaltvollen Inhalten. Wenn die 5b aus dem Rosa Luxemburg-Gymnasium Macbeth aufführt, dann erwartet uns vermutlich eine eindrucksvollere Präsentation. Wenn mir aber ein NPC erklärt, dass das antike "Baseballspiel" ein Wettkampf zwischen zwei Teams war, die sich gegenseitig totprügeln mussten und die Kinder der verstorbenen Spieler mit signierten Bällen getröstet wurden, dann trifft Fallout 4 genau die alberne Erzählweise, die zum Universum passt.

So wird traditionell Baseball gespielt

Ich möchte hier aber ganz deutlich machen, dass die seltsamen Animationen der Figuren nicht den allgemeinen Look von Fallout 4 ausmachen. Wie bei jedem Bethesda-RPG stehen die NPC-Marionetten wunderschönen Landschaften gegenüber und glücklicherweise verabschiedet sich Fallout 4 von der allzu düsteren Ästhetik, die Fallout 3 und Fallout: New Vegas noch als Statussymbol vor sich hergetragen haben. Da das Fallout-Franchise aber mehr Machtfantasie als beinharte Überlebenssimulation ist, passen die warmen Farben und die lebendigere Umgebung besser zum Spielgefühl von Fallout 4.

Zwar sind die Texturen oft matschiger als man es von einem AAA-Werk aus dem Jahre 2015 erwarten könnte, doch warum mir die Grafik in der Fallout-Reihe nicht so wichtig ist, habe ich hier schon einmal erläutert . Das besondere Gefühl, das Fallout 4 durch das gewohnt außergewöhnliche Art Design hervorruft, wird durch die etwas altbackene Darstellung nicht beeinträchtigt. Die neue Lebendigkeit der Welt und die farbenfrohe Umgebung unterstreichen für mich den einst so positiv aufgeladenen Retrofuturismus der Vergangenheit und Bethesda schafft einen stärkeren Kontrast zum Niedergang der Zivilisation.

Schaffe, Schaffe, Häusle baue

Es ist also nicht die Geschichte oder die außergewöhnliche Präsentation von Fallout 4, die das Spiel für mich über Skyrim und Co. stellen. Denn ganz unaufgeregt hat Bethesda ein Feature integriert, das eigentlich so nahe liegt, dass ich nie gedacht hätte, dass es meine Spielerfahrung derart bereichern kann: Crafting. Das Basteln von eigenen Waffen, Rüstungen und Tränken ist absolut kein Konzept, das für aktuelle Rollenspiele von besonderer Erwähnung ist. Doch der Größenwahn von Bethesda hat hier ausnahmsweise einmal Vorteile, denn erst die Kleinteiligkeit des Systems macht es für mich so reizvoll.


Anstatt auf eine Handvoll Grundressourcen zu setzen, wie es in Skyrim mit Leder und Erz geschieht, setzt sich das Crafting in Fallout 4 aus zahllosen Komponenten wie Keramik, Gummi, Schrauben, Kleber oder Aluminium zusammen. Das sorgt dafür, dass jede Bastelarbeit an Glaubwürdigkeit gewinnt, denn natürlich brauche ich für meinen neues Zielfernrohr nicht einfach nur Stahl. Ich benötige mehrere Bestandteile, die ich an unterschiedlichen Orten im Ödland suchen muss. Die Ressourcen in der postapokalyptischen Welt sind rar gesät, aber nicht unauffindbar. So lohnt es sich beispielsweise in normalen Wohnhäusern das Kinderzimmer aufzusuchen, weil dort möglicherweise altes, aufziehbares Spielzeug zu finden ist. Das bedeutet Schrauben und Zahnräder, die dringend benötigt werden.

Leider verzichtet Bethesda darauf, das System prominent vorzustellen und den Spieler einzuführen. Das sorgt vor allem zu Beginn für Überforderung und erst spät erschließt sich der Reiz des Craftings. Dasselbe gilt für die Möglichkeit, eigene Siedlungen aus dem Boden zu stampfen. Als Zweigarm des Crafting-System stiftet dieses Feature ebenfalls nur Verwirrung, da weder Nutzen noch Funktionsweise dieser Idee deutlich gemacht werden. Erst nach 20 Stunden Spielzeit begann ich so langsam mit dem Feature warm zu werden, das mir schon seit dem Beginn des Spiels in vollem Umfang zur Verfügung stand.

Des Pudels Kern

Das Crafting sorgt endlich für den Anreiz, mich mit den Inhalten des Ödlands zu beschäftigen. Wo ich mit dem Schrott aus Fallout 3 nichts anfangen konnte, stöbere ich nun nach Lust und Laune nebenbei durch die Dungeons und hoffe auf ein paar Keramik-Aschenbecher, weil mich die Sicherung von Ressourcen auf gleich mehreren spielmechanischen Ebenen nach vorn bringt. In Verbindung mit dem deutlich verbesserten Gunplay, das Fallout 4 im Vergleich zu den Vorgängern bietet, stellt sich ein sehr befriedigender Gameplay-Loop ein, der mich auch Füller-Quests gern erledigen lässt.

Auch die Nahkampfwaffen sind vom Crafting nicht ausgenommen

Schon im Vorfeld hatte Bethesda immer wieder betont, dass Fallout 4 zwar ein Action-Rollenspiel bleiben soll, die schwachen Shooter-Mechaniken aus Fallout 3 und Fallout: New Vegas aber unbedingt verbessert werden sollen. Und tatsächlich fühlen sich die Schussgefechte dieses Mal weitaus dynamischer an. Während ich bei den Vorgängern nie das Gefühl los wurde, dass ich trotz hoher Schussrate nur statische Angriffe ausführe, die stotternd auf den Gegner einprasseln, laufen die Kämpfe in Fallout 4 nun deutlich flüssiger ab. Auch die unterschiedlichen Spielarten der einzelnen Waffen, die wir uns durch das Crafting gestalten können, fühlen sich passenderweise immer etwas anders an. Diese Verbesserung wirkt sich genauso auf die Feinde aus, die uns nun ebenfalls actionreicher in Bedrängnis bringen können.

Hier gewinnt der eigentliche Kern der Bethesda-Titel einen neuen Anreiz, denn letztendlich ist das beiläufige Erkunden von Fabriken, Höhlen und Schrottplätzen die Tätigkeit, die am meisten Zeit in Fallout 4 einnimmt. In Sachen Präsentation bleibt Titel hinter der Konkurrenz von The Witcher 3: Wilde Jagd zurück, dasselbe gilt für die erzählerischen Qualitäten. Auch das besondere Setting, dass Fallout 4 durch den KI-Terror des Instituts anschlägt, kann mit Titeln wie SOMA, das eine ähnliche Grundidee hat, nicht mithalten.

Fazit

Bethesda wäre es lieb, wenn wir Fallout 4 wegen der packend inszenierten Geschichte lieben und nebenbei das umfangreiche Gameplay genießen. Da aber das genaue Gegenteil der Fall ist, leidet Fallout 4 darunter, dass die guten Quests einer nicht zeitgemäßen Präsentation zum Opfer fallen und die reichhaltige Spielmechanik unerklärt hineingeworfen wirkt. Wer den zähen Anfang übersteht und den reinen Verlauf der Geschichte spannender findet als ihre Intensität, der hat erkannt, was Fallout 4 auszeichnet.

Der enorme Umfang des Spiels hat meine Faszination für das Fallout-Franchise neu entfacht. Vor allem das Crafting-System und das frische Gunplay täuschen mich erfolgreich über die Tatsache hinweg, dass Fallout 4 so manche Motive aus dem Vorgänger recycelt und oder ganze Features nur am Rande liegen lässt. Doch wer auf den Dörferbau oder die Powerrüstung ohnehin verzichten kann, wird davon nicht beeinträchtigt.

Fallout 4 wurde uns in Form eines Review-Musters von Bethesda zur Verfügung gestellt.

Das könnte dich auch interessieren

Kommentare

Aktuelle News