Geschichten aus der Geschichte – Für mehr historische Szenarien

08.12.2015 - 12:00 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
Assassin's Creed: Unity
Ubisoft
Assassin's Creed: Unity
0
0
Historische Szenarien bieten viel Potenzial für Videospiele. Die menschliche Vergangenheit zu erkunden ist mindestens genauso reizvoll wie die Erforschung fiktiver Szenarien.

Videospiele erlauben wunderbaren Eskapismus. In Universen wie dem aus Mass Effect oder den Elder-Scrolls-Spielen können sich Spieler unzählige Stunden verlieren und in einer fantastischen Welt leben, in der sie handeln können, wie es in der Realität unmöglich wäre. Es kann allerdings durchaus interessant sein, sich in realen Szenarien zu verlieren.

Die Assassin's-Creed-Reihe zeigt das recht deutlich: Von Anfang an haben sich die Entwickler darauf eingeschossen, Szenarien aus der menschlichen Geschichte abzubilden, insbesondere Städte, aber auch die Menschen dieser Zeit. Historisch korrekt? Nein. Aber doch nahe dran. Wer einmal über die digitalen Dächer der Städte des Nahen Ostens zur Zeit der Kreuzzüge, durch das Venedig der Renaissance, die USA zu Zeiten des Unabhängigkeitskrieges oder Paris während der französischen Revolution gerannt ist, glaubt, den Geist der jeweiligen Zeit förmlich zu spüren. Die Städte fühlen sich an, als würden sie atmen, ihre Bewohner sprechen Landessprache und vermitteln so eine Authentizität, die viele Titel vermissen lassen. Eigentlich gäbe es da aber noch mehr Optionen: Historische Spiele bieten jede Menge Potenzial, sie beschränken sich momentan auf zu wenige Szenarien und Genres ein.

Genres, das sind vor allem Simulationen und Strategie-Spiele, die weitgehend keine eigene Handlung erzählen. Sie stellen mehr oder weniger akkurat historische Schlachten nach und geben dem Spieler meist komplexe, taktische Möglichkeiten, Einheiten zu verschieben und flexibel einzusetzen. Sie benutzen das historische Szenario als Schablone, sind aber im Wesentlichen mechanische Spiele, bei denen die Story nicht im Vordergrund stehen. Sie setzen darauf, dass der Spieler sich in ein Regelwerk vertieft, es studiert und ausnutzt. Nachzufühlen, wie ein bestimmtes Zeitalter aussah, lässt sich mit solchen Spielen nicht. Das klappt eher mit Titeln, in denen der Spieler auch etwas von seiner Umwelt mitbekommt — aus der Sicht eines Menschen.


Sicher möchte niemand durch kniehohen Pferdekot stapfen und dabei mit den Auswirkungen der Pest kämpfen. Eine exakte Nachbildung mittelalterlicher Szenarien wäre daher schwierig. Aber auch Mass Effect  wäre langweilig, wenn der Spieler einen Zivilisten verkörpern würde und nicht den mächtigen Retter des Universums und seine Crew. Geschichten, die es wert sind, erzählt zu werden, brauchen immer starke Protagonisten, die auch etwas erlebt haben — oder eben eine besondere und reizvolle Spielmechanik: Ein Shooter aber, der beispielsweise vor der Erfindung der Schnellfeuergewehre spielt, könnte durchaus funktionieren – muss aber nicht, wie der Mehrspieler-Shooter Verdun  zeigt, der im ersten Weltkrieg spielt und der derzeit als Early-Access-Fassung erhältlich ist. In meiner Idealvorstellung hätten Beschränkungen der Handlung unmittelbare Auswirkungen auf die Spielmechanik: Jeder Schuss würde zählen, die Nachladegeschwindigkeit wäre gefühlt ewig und jeder Treffer fatal. So etwas gibt es durchaus schon. Im Survival-Horror-Genre funktioniert dieses Konzept ganz hervorragend. Der Mangel an Munition ist hier geradezu Standard.

Ebenfalls eine Herausforderung wäre ein Ego-Shooter ohne moderne Schusswaffen. Das Reboot von Tomb Raider  hat gezeigt, wie viel Spaß es machen kann, einen Bogen aufzurüsten und mit verschiedenen Pfeilen zu schießen: normale, brennende oder solche mit Gift. Benutzt werden Pfeil und Bogen seit der ausgehenden Altsteinzeit. Verschiedene Modelle ziehen sich seither durch die menschliche Geschichte. Warum also kein Spiel entwickeln, das etwa während der Völkerwanderung ab dem vierten Jahrhundert spielt – ein bislang in Spielen sehr vernachlässigter Zeitraum, der es erlaubt, gänzlich neue Geschichten zu erzählen.


Noch weiter in der Historie zurück möchte Ubisoft nun mit Far Cry Primal  gehen – wohl bewusst ist es kein Teil mit einer Nummer, denn es soll sich von den vorherigen Spielen stark unterscheiden. Die ersten Gameplay-Szenen zeigen vor allem ein langsames und besonnenes Vorgehen des Protagonisten, der schon bei der Jagd nach einem Wolf aufpassen muss, dass er nicht umkommt. Vorbei sind die Zeiten, in denen sich die meisten Szenen mit einem schnell gezogenen Raketenwerfer lösen ließen.

Es müssen aber nicht unbedingt Action-Spiele sein. Auch friedlichere Genres funktionieren in historischen Szenarien hervorragend. Explorative Spiele wie The Vanishing of Ethan Carter  oder Dear Esther  würden hervorragend im römischen Kaiserreich oder dem antiken Griechenland funktionieren. Ich möchte durch die Kulissen der menschlichen Geschichte wandeln und wie nebenbei eine spannende Story erzählt bekommen. Die Handlung müsste nicht zwangsläufig Ereignisse von historischer Tragweite enthalten, ein kleiner Krimi würde vollkommen reichen. Ich könnte mich wohl nicht satt sehen an den Städten der Antike, dem Leben auf der Straße, den großen und kleinen Gebäuden. Die Geschichte ist von sich aus voller spannender Geschichten. Alternativ darf es aber auch gern episch werden: Es hätte eine ganz besondere Atmosphäre, im brennenden Rom Kaiser Neros durch die Straßen zu laufen oder zu versuchen, den Tod von Kleopatra aufzuklären.


Warum aber sind historische Szenarien in Videospielen nicht verbreiteter? Ihnen haftet der Geruch der Langeweile an. Nur einige wenige historische Ereignisse tauchen in schöner Regelmäßigkeit in Spielen auf: der Zweite Weltkrieg etwa, oder der Vietnamkrieg. Überhaupt sind es meist kriegerische Auseinandersetzungen, die als Vorlage für ein Spiel dienen. Klar: Niemand möchte als Martin Luther religiöse Thesen an eine Kirchentür nageln, aber wie heute gab es auch in der Historie kleinere, persönlichere Geschichten und menschliche Abgründe: Betrug, Raub, Krieg, Intrigen. Es sind doch letztlich auch menschliche Schicksale, die Videospiele spannend machen.

Völlig unabhängig von der Entscheidung der Entwickler, mit ihren Spielen Einzelschicksale oder historische Weltereignisse aufzugreifen, ist die damit verbundene Verantwortung vor der Geschichte selbst nicht zu unterschätzen. Nach der Veröffentlichung von Assassin’s Creed: Unity  entflammte in Frankreich eine politische Debatte um die Darstellung des umstrittenen Politikers Maximilien de Robespierre im Spiel. Davon abgesehen kam es im Verhältnis zu den Unmengen an Spielen, die jedes Jahr veröffentlicht werden, bisher nur selten zu handfesten Debatte, ob Spiele politisch sein dürfen oder müssen — und wenn ja, bis zu welchem Ausmaß. Nur wenige Entwickler haben sich bisher auf Ereignisse unserer jüngsten Vergangenheit gestürzt und damit liegt die Antwort auf diese Fragen noch immer im Bereich des Experimentellen.


Seit Spiele zu Millionen-Dollar-Produktionen geworden sind, ist es für Entwickler ein Risiko geworden, mutige Spiele in ungewöhnlichen Szenarien abzuliefern. Es ist schwer, vorherzusagen, wie gut oder schlecht sich ein Spiel über den Dreißigjährigen Krieg verkaufen würde – zu sperrig könnte das Szenario aufgenommen werden und einfach nicht so aufregend wie der nächste Shooter über ein High-Tech-Militärsimulation, die in einer möglichen nahen Zukunft spielt. Dennoch: Lohnen würde sich der Versuch.

Zu unbekannt ist uns die menschliche Geschichte und Videospiele sind die Möglichkeit, sie uns näher zu bringen. Gar nicht so sehr, weil wir uns unbedingt bilden müssen — das aber natürlich auch — sondern weil historische Szenarien einfach mindestens genauso stark sind wie fiktive.

Das könnte dich auch interessieren

Kommentare

Aktuelle News