Wir alle kennen dieses Phänomen: Bestenlisten der allerliebsten Lieblingsspiele, die zu Jahreswechseln, Geburtstagen oder aus heiterem Himmel von Spieleseiten und Privatblogs gestartet werden. Heute tausendfach gesehene Spielideen, die vor 20 Jahren mit Universalkleber getüncht und in ein Bällebad aus eckigen Pixelsteinen getaucht wurden, um damals als Spaßkanonen und heute mit Worten wie "charmant" abgestraft ihr digitales Dasein fristen.
In dieser Reihe der ewig Gelobten und Vertreter der üblichen Verdächtigen gängiger Bestenlisten und Rückblicke hat auch Day of the Tentacle aus dem Jahr 1993 schon vor langer Zeit seinen festen Platz erkämpft. Doch was, wenn in diesem Fall tatsächlich etwas hinter der hochgelobten Fassade steckt — mehr als nur Nostalgie und die Namen bekannter Entwickler?
Das Team rund um Double Fine, die ihre Wurzeln mit Altmeister Tim Schäfer und Spielen wie Broken Age oder The Cave tief im Adventure-Genre verankert haben, hat nun mit einem grafischen Remake den bekannten Klassiker Day of the Tentacle aus der staubigen Versenkung geholt und mit den neusten Konsolen unter dem Sattel auch für die jüngeren Spieler wieder zugänglich gemacht. Grund genug für mich, einen kritischen Spaziergang durch die Architektur meines Langzeitgedächtnisses zu machen und mein Erinnerungsvermögen abzuklopfen, ob mein selbsterklärt zweitliebstes Spiel dem Zahn der Zeit noch trotzen kann.
Die Handlung von Day of the Tentacle ist schnell ausgebreitet: Rund fünf Jahre nach den Ereignissen von Maniac Mansion , dem geistigen Vorgänger des Tentakel-Abenteuers, hat das lila Tentakel dank eines Chemie-Unfalls den Ehrgeiz entwickelt, die Welt zu erobern. Sein alter Freund Grünes Tentakel ahnt böses und benachrichtigt das bekannte Trio bestehend aus dem Vollzeitnerd Bernard, dem Metaller Hoagie und der Medizinstudentin Laverne. Diese sollen den lila Bösewicht aufhalten, indem sie mit der Hilfe des verrückten Doktors Ed in die Vergangenheit reisen und die Geschehnisse der Zukunft manipulieren. Stattdessen aber kommt es zu einem Unfall und alle drei Protagonisten verstreuen sich im Strom der Zeit: Bernard bleibt in der Gegenwart, Laverne verschlägt es mehrere tausend Jahre in die Zukunft und Hoagie muss zum Zeitzeuge der amerikanischen Unabhängigkeit werden. Und damit nimmt die Schnitzeljagd ihren Lauf.
Direkt auf den ersten Blick zeigt sich die enge Verknüpfung der skurrilen Geschichte mit dem grafischen Kostüm: Fiebertraumartige Architekturen stapeln sich jenseits aller physikalischen Gesetze in den Bildschirmhintergründen und rahmen die Handlung, die von überzeichneten Charakteren vorangetrieben wird. Auch der Humor des Spiels gleicht eher einer Mischung aus Teenager-Witzen und Stammtisch-Kichern: Hier stecken wir einen Hamster in ein Gefrierfach, um ihn durch die Zeit reisen lassen zu können, dort tauschen wir koffeinierten mit entkoffeiniertem Kaffee aus, um den übereifrigen Doktor Fred zum Einschlafen zu bewegen.
Das Motiv der Zeitreise bleibt allerdings keine inhaltslose Worthülse: Durch den Umstand, dass die drei Hauptcharaktere im Wirrwarr der Zeit verstreut sind, ergeben sich sehr unterhaltsame und teils knifflige Rätsel und Aufgaben für euch: Beispielsweise benötigt Laverne in der von den Tentakeln beherrschten Zukunft ein Tentakel-Kostüm. Um an dieses zu gelangen, muss es Hoagie in der Vergangenheit schaffen, dass die amerikanischen Gründerväter ein solches Kostüm als Entwurf zum Vorbild der neuen Nationalfahne ernennen. Bei diesem Hin und Her ist es Bernards Aufgabe in der Vergangenheit, entsprechende Materialien durch die Zeit zu schicken oder zu recherchieren, an welchen Punkten der Geschichte Hoagie eingreifen könnte.
Das ist nur eines von vielen Rätseln, die auf sehr unterhaltsame Art und Weise das Element der Zeitreise aufgreifen und mehr als einmal ein bebendes Schmunzeln auf euer Gesicht zaubern werden. Begeistert von der damals neuen Technologie, die die Entstehung von Day of the Tentacle kuratierte, war es dem Team rund um Ron Gilbert außerdem möglich, das komplette Vorgängerspiel Maniac Mansion als spielbares Randfeature einzubauen und damit auch beim damaligen Publikum für einen "Woah!"-Effekt zu sorgen.
Zwar war und ist Day of the Tentacle ein Adventure der alten Schule mit klickbaren Verben und einem unendlich großen Inventar, die Rätsel zeigten sich aber im Vergleich zu seinen Zeitgenossen wie King's Quest VII: The Princeless Bride oder The Secret of Monkey Island seltsam nachvollziehbar. Zumindest bei mir gehörte dieses Spiel zu den ersten überhaupt, die ich nahezu ohne die Hilfe eines Lösungsbuches durchspielen konnte. Das sollte auch für bisher unbefleckte Spieler ein Zeichen sein, bei dem nun erschienenen Remake zuzugreifen und sich selbst einmal an den Rätseln zu versuchen.
Für alle, die lieber die voyeuristische Außenperspektive bevorzugen, statt selbst den Controller zu biegen, darf ich folgendes Schmuckstück der Videotechnik empfehlen.
Tim Schäfer spielt hier nach Jahrzehnten zum ersten Mal wieder sein Spiel Day of the Tentacle, erinnert sich an Rätsel und die dazugehörigen Diskussionen hinter den Kulissen zurück und erzählt von unterhaltsamen Anekdoten innerhalb des Entwicklerteams. Spätestens nach Ansehen des Videos und beim Anblick der leuchtenden Augen des Spiele-Schwergewichts darf dem ikonischen Spiel über machtgeile Tentakel und heldenhafte Zeitreisende, die aus irgendeinem Grund nicht mit Hamstern klar kommen, der Status des zeitlosen Klassikers mit bestem Gewissen zugeschoben werden.
Benutze Hammer mit Hamster.