Ich, Silent Hill und das Heulen der Sirenen

12.05.2015 - 09:00 Uhr
Silent Hill
Konami
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Das erste Silent Hill markierte nicht nur einen Meilenstein des Horror-Genres, sondern beendete auch auf brutalste Weise meine Kindheit. Eine Geschichte von heulenden Siren und der verlorenen Idylle eines Dorfes.

Ich komme aus einem kleinen Dorf in Süddeutschland, das in seinen besten Jahren knapp 700 Einwohner zählte. Obwohl nur wenige Menschen in diesem Ort wohnten, war immer irgendwer auf der Straße unterwegs. Alte Bauern unterhielten sich laut schnatternd auf einer der zahlreichen Bänke, einige Kinder rannten lachend und mit Wasserbomben bewaffnet über die Wiesen, während ab und zu der Lärm eines Traktors jedes andere Geräusch unhörbar machte. Es war eine besondere Form der Idylle, die ich von meinem Kinderzimmer im ersten Obergeschoss aus täglich beobachten konnte.

Es war ein Tag im Herbst des Jahres 2000 und ich hörte zum ersten Mal die Sirenen unseres Dorfes, die vom neugewählten Bürgermeister nach fast 50 Jahren wieder in Betrieb genommen wurden. Ursprünglich von den amerikanischen Besatzungstruppen installiert, um wichtige Meldungen schnell zu verbreiten, sorgte ein Signalton für die nötige Aufmerksamkeit, bevor die eigentliche Nachricht im Bürgerhaus am Mikrofon verlesen wurde.


Das Geräusch war ein Fremdkörper im Alltag meiner Nachbarschaft. Die Kinder blickten an diesem Nachmittag besorgt zu den kleinen Lautsprechern an den Häusern, die sie zuvor gar nicht wahrgenommen hatten. Viele der Älteren kannten das Geräusch noch aus der turbulenten Zeit nach dem großen Krieg und kämpften mit den Erinnerungen an ein dunkles Kapitel ihrer Lebensgeschichte, während das Dröhnen immer weiter anschwoll und erst nach einer Ewigkeit endete.

Seit diesem Tag hörten wir die Sirenen mindestens einmal am Tag und lauschten anschließend den hölzern heruntergebetenen Nachrichten, die im und um das Dorf herum passiert waren. Zu dieser Zeit war mein Onkel, der in den Nachbarort gezogen war, häufig bei uns zu Besuch und brachte eines Tages auch seine Playstation mit, um sie uns, meiner Schwester und mir, stolz vorzuführen. Ich war bereits ein großer Fan von Videospielen und stapelte in den geheimen Ecken meines Zimmers die Zeitschriften seit Jahren meterhoch — der große WOW-Effekt blieb also aus, als mein Onkel das flache, graue Gerät an die Steckdose und den Fernseher anschloss. Nach einigen Runden FIFA und Tekken legte er dann allerdings ein Spiel ein, dessen Welt bis heute einen tiefen, bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen hat: Silent Hill .

Der Asche-Regen war ursprünglich ein Zugeständnis an die Technik der damaligen Zeit.

Das Spiel mit dem charakteristischen, alles überziehenden Asche-Regen erschien 1999 und markierte die Geburt eines der bekanntesten Horrorspiel-Franchises, die in unserer Gegenwart zwar einige schwache Teile hervorbrachte, nichtsdestotrotz aber ein gigantisches Erbe auf seinen Schultern trägt.

Silent Hill begann die Geschichte um die seltsame Stadt, die irgendwo zwischen menschlichem Bewusstsein und Unterbewusstsein zu liegen schien und erzählte die Geschichte von Harry, der nach einem Unfall seine Tochter Cheryl sucht, die in den Weiten der unheimlichen Stadt verschwunden ist. Inspiriert von der damaligen Konkurrenz Resident Evil  machte das Spiel ebenfalls die Isolation und Verzweiflung eines einsamen Hauptcharakters in einer feindlichen Umwelt zum Thema, konzentrierte sich allerdings im Gegensatz zum Genre-Bruder auf subtilen Horror und eine dichte, nervenaufreibende Atmosphäre, statt Hunde durch Fenster springen zu lassen. 

Neben dem wunderbaren Soundtrack von Akira Yamaoka, der jahrelang mein LastFM-Musikprofil beherrschte, dachte sich das Team unter Gozo Kitao und Keiichiro Toyama einen besonderen, spielverändernden Kniff aus: Regelmäßig erklangen die Sirenen im Spiel und kündigten eine komplette Umkehrung der Spielwelt an. Aus der verlassenen, einsamen Stadt wurde eine in Architektur gepresste Hölle: Rost, Blut und Dreck begann die Wände und Böden zu überziehen, während gruselige Monster, Missgestalten und eine sehr schwerfällige Kamera dem Spieler an den durchschwitzten Kragen wollten.

Das Dröhnen der Sirenen macht Silent Hill zur wahrhaftigen Hölle auf Erden.

Die Sirene wurde zu meinem eigentlichen Gegner, während ich mich an der von meinem Onkel geliehenen Konsole Stunde um Stunde tiefer in die verzweigten Geheimnisse und Gänge von Silent Hill begab: Jedes alarmierende Dröhnen trieb mir erneut den Angstschweiß auf die Stirn, das Spielerlebnis war ein Wechselbad aller extremen Gefühle.

Es fiel mir schwer, mich jeden Abend erneut zu überwinden und in die lebensfeindliche Umwelt abzutauchen, doch auch nachdem ich Silent Hill durchgespielt hatte, konnte ich mich nie wieder endgültig aus dieser seltsamen Stadt verabschieden. Die Sirenen in meinem Dorf heulten weiterhin täglich laut auf und ließen mir ein Schaudern über den Rücken fahren, während die Welt um mich herum verstummte und das Ende des Dröhnens geduldig abwartete. In dieser Zeit starb auch ein Stückchen meiner Kindheit, als Silent Hill die Idylle meines Heimatdorfes mit einer dicken Schicht Rost und Schmutz überzog.

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