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Meine erfreulichsten Neuentdeckungen im Filmmedium Anno 2017

31.12.2017 - 16:45 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
Eine meiner schönsten filmischen Neuentdeckungen 2017: "Eyes Wide Shut"!
Warner Bros.
Eine meiner schönsten filmischen Neuentdeckungen 2017: "Eyes Wide Shut"!
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Als Cineast bekommt man hin und wieder das deprimierende Gefühl, so gut wie alle bedeutenden Filme dieser Welt bereits gesehen zu haben. Doch das ist natürlich absoluter Blödsinn, schließlich warten überall auf dieser Welt die großartigsten Werke buchstäblich nur darauf, sich entdecken zu lasse. Und selten darf sogar ein überraschend guter Kultfilm nachgeholt werden, vor dem man sich zuvor immer grundlos gedrückt hat. Kurz gesagt: Für mich gibt es nach dem erstmaligen Ansehen eines Films nichts Schöneres, als das befriedigende Gefühl, etwas wirklich Großes miterlebt zu haben.

Und somit präsentiere ich im Folgenden meine persönliche Liste der erfreulichsten filmischen Neuentdeckungen im Jahre 2017. Und damit an diesem Punkt keine Missverständnisse aufkommen - es geht im nachfolgenden Ranking nicht um die besten Filme, die 2017 produziert oder in den Kinos vorgeführt wurden, sondern um die besten Filme, die ich in diesem Jahr tatsächlich zum ersten Mal ansehen durfte.

Dabei gilt aber zu beachten, dass alle in dieser Liste vertretenen Titel aus analytischer Perspektive mindestens sehr gut sind. Allerdings besteht eine Ordnung nach ansteigender Qualität und somit stehen die ersten Plätze in meiner Achtung wesentlich höher als die unteren Ränge. Der Film auf Platz 1 spielt meines Erachtens nach sogar nochmals in einer völlig anderen Riege als alles Vorherige. Dennoch würde ich, wie bereits geschrieben, keinen in diesem Artikel genannten Film nicht uneingeschränkt weiterempfehlen.

Platz 10: Ewige Jugend von Paolo Sorrentino

Bilder, in denen man sich einfach nur verlieren möchte...

Man sagt, die besten Filme seien jene, die sich real anfühlen, den Zuschauer vollkommen vereinnahmen und ihn alles um sich herum vergessen lassen - sogar den Umstand, dass er sich lediglich in einem fiktiven Werk befindet. Freilich ist das Sehen eines Films kein rein passiver Akt, denn zumindest ein guter Film sollte sein Publikum immer ein Stück weit geistig involvieren, es in seine Welt hineinziehen und dort gefangen halten. Gelingt es der Fiktion nämlich, unsere Realität zu beeinflussen, gleich in welcher Weise, so ist dies in der Regel immer ein Qualitätssiegel. Dabei ist es relativ unbedeutend, ob dieser Vorgang körperlich vonstattengeht, also etwa durch das Erleben einer Gänsehaut und das Vergießen von Tränen oder mental, sprich durch das Auslösen von Emotionen wie Angst, Wut, Trauer, Hass, Freude oder Nachdenklichkeit.

Würde man Filme nun allein nach ihrer Sinnlichkeit beurteilen, so wäre Ewige Jugend in jedweder Hinsicht ein Meisterwerk. Erschuf Paolo Sorrentino bereits mit seiner wundersamen Einsamkeitsparabel La Grande Bellezza - Die große Schönheit einen Film, an den sich die Menschheit noch in vielen Jahren erinnern dürfte, so beweist der talentierte Regisseur mit Ewige Jugend erneut, dass er momentan mit zu den Besten seiner Zunft gehört. In beinahe jeder einzelnen Szene darf man bei diesem einzigartigen Film staunen. Und vor allem fühlen.

Denn Ewige Jugend ist in etwa das, was einem cineastischen Wellnessurlaub am nächsten kommen dürfte: Man spürt förmlich die Hitze der Saunen und Dampfbäder auf seiner Haut, riecht die kühle Landluft, inhaliert den Duft von frischem Gras und fühlt, wie das dampfend warme Wasser der Schwimmbecken den eigenen Körper umfängt und in einen angenehm dösigen Ruhezustand versetzt. Zu verdanken ist diese Flut an Sinneseindrücken in erster Linie den warmen Bilder von Kameramann Luca Bigazzi, die in einer seltsamen Symbiose aus Intensität und Ruhe miteinander harmonieren, wie man sie heutzutage nur noch selten im Kino erleben darf. Und dennoch schwingt immer wieder ein hintergründiges Sehnen, ein tiefes Gefühl des verständnislosen Verlangens in ihnen mit, das man selbst lange nach Ansehen des Filmes nicht konkret zu verbalisieren vermag.

Vielleicht ist es das Gefühl, in jeder Szene etwas wahrhaft Bedeutsamem beizuwohnen, das uns die eigene Bedeutungslosigkeit vor Augen führt? Gut möglich. Dennoch gelingt es Ewige Jugend, dieses innere Loch recht befriedigend aufzufüllen. Denn letztlich ist es ein Film, der sich dem Kleinen widmet und damit das Große unausgesprochen im Raum stehen lässt - jederzeit bereit, aufgenommen zu werden. Außerdem: War Michael Caine je denkwürdiger als hier? Ich glaube nicht.

Platz 9: Aus der Mitte entspringt ein Fluss von Robert Redford

Noch mehr Bilder zum Verlieben!

Das Wichtigste vorweg: Aus der Mitte entspringt ein Fluss ist ein sträflich vernachlässigter Film und leider bei weitem nicht so populär wie er es, gemessen an seinen zahlreichen Qualitäten, eigentlich verdient hätte. Dabei ist die Handlung dieses poetisch bebilderten Dramas im Grunde recht simpel, was aber keinesfalls bedeuten soll, sie wäre langweilig oder gar uninteressant. Ganz im Gegenteil: Liegt nicht gerade im Simplen eine gewisse Schönheit? Davon bin ich fest überzeugt. Und kaum ein Regisseur bekräftigt dies auf eine bezauberndere Art als Robert Redford mit Aus der Mitte entspringt ein Fluss.

Aus der Mitte entspringt ein Fluss berichtet von Ausschnitten einer Geschichte, wie sie das Leben selbst nicht schöner schreiben könnte. Erzählt in Rückblendenform, wird bereits von Anfang an ersichtlich, dass es hier weniger um die Exposition eines anspruchsvollen Plots als vielmehr um das Erleben verschiedener Erinnerungsfragmente aus der Kindheit sowie dem Erwachsenenalter des Protagonisten geht. Und so entfaltet Aus der Mitte entspringt ein Fluss rasch eine fast hypnotische Sogwirkung, gespickt mit vielen herzerwärmenden, aber nicht minder zahllosen herzzerreißenden Momenten, unterlegt mit einer großen Menge an Wertschätzung für das Leben. Spätestens der melancholische Schlussakkord und das abschließende Zitat dürften lange Zeit ins Gedächtnis verweilen und einigen Anstoß zur Reflektion bieten. Denn gleich einem Fluss ist auch dieser Film ein Spiegel, in dem sich wohl beinahe jeder Mensch zu einem Teil selbst wiederfinden kann, wenn er es denn versucht. Aber Obacht: Wie ein Fluss verfließt auch das Leben so schnell, dass man nie früh genug beginnen kann, sich mit seinem eigenen Spiegelbild auseinanderzusetzen.

Platz 8: Perfect Blue von Satoshi Kon

Vor "Black Swan" gab es "Perfect Blue"!

Perfect Blue ist eine unbeschreiblich beängstigende Alptraumvision, die tief hinter menschliche und gesellschaftliche Fassaden blickt und dabei Verstörendes zutage fördert. In surrealistischen Bildern bewegt sich Regisseur Satoshi Kon mit diesem morbiden Anime auf einem schmalen Grad zwischen psychologischer Dekonstruktion und absolutem Kontrollverlust mit einem Hauch von Mulholland Drive und kreiert damit eine Welt, in der sich Realität und Fiktion unaufhaltsam immer enger ineinander verschlingen.

Wer nun allerdings annimmt, bei Perfect Blue handele es sich um ein generisches Verwirrspiel mitsamt obligatorischem Plottwist und konventioneller Auflösung, der unterliegt einem fatalen Trugschluss. Denn ähnlich wie bereits in Paprika macht es sich Satoshi Kon mit Perfect Blue alles andere als einfach. Die Blöße einer eindeutigen Erklärung gibt sich der Film nämlich nicht. Dafür ergötzt er sich intellektuell daran, die zu Beginn noch recht stringente Handlung zunehmend radikaler entgleisen zu lassen, sie immer grotesker und kafkaesker auszuschmücken - bis hin zur narrativen Besinnungslosigkeit.

Perfect Blue zeigt Bilder in einer rohen, schwer zu verarbeitenden Intensität und führt - einer Abwärtsspirale gleich - immer tiefer in ein Dunkel des psychischen Terrors und der schockierenden Ehrlichkeit. Es ist ein von der ersten Minute an fesselndes Martyrium, das für weitaus mehr Unbehagen sorgt, als es die meisten Horrorfilme oder Thriller aus Hollywood je vermögen würden. Oder um es anders zu formulieren: Ich empfinde beim Sehen eines Filmes nur selten ein Gefühl von Beklemmung und noch viel seltener echte Angst. Perfect Blue aber hat mir Angst gemacht. Sehr, sehr viel.

Platz 7: Wenn der Wind weht von Jimmy T. Murakami

Warum fühlen sich meine Augen so nass und salzig an?

Einen glaubhaften Film über den Schrecken des atomaren Kriegs zu entwerfen ist kein sonderlich schweres Unterfangen. Schließlich liegt die Angst vor der endgültigen nuklearen Auslöschung tief im menschlichen Wesen verwurzelt - heute gegenwärtiger denn je. Um ein vielfaches prekärer ist es hingegen, ein apokalyptisches Ereignis solchen Ausmaßes als ein großes, aufregendes Abenteuer zu inszenieren; ein spannendes Erlebnis, das zwar durchaus anstrengend, aber niemals gefährlich oder lebensbedrohlich sein mag. Hierbei den engen Weg zwischen einer glaubhaften, zynischen Abhandlung und einer geschmacklosen Satire, die dem heiklen Thema mit viel zu wenig Ernsthaftigkeit begegnet, zu beschreiten, ist wahrhaftig eine fordernde Aufgabe. Der Zeichentrickfilm Wenn der Wind weht meistert diese allerdings mit Bravour - und vergisst dabei zu keinem Zeitpunkt das erforderliche Maß an Menschenliebe.

Aus der naiven, kindlichen Sicht eines alten Ehepaars beleuchtet Wenn der Wind weht das Szenario eines Atomkriegs von der denkbar ungewöhnlichsten Seite: Statt Angst vor der Katastrophe empfinden die beiden Hauptpersonen nur müde Gleichgültigkeit, so als wäre ein Bombenangriff etwas gänzlich Alltägliches und nichts, worüber man sich weiter den Kopf zerbrechen müsste. Bis zum bitteren Ende wird den beiden die Aussichtslosigkeit ihrer Lage nicht bewusst, genauso wie sie zu verdrängen scheinen, dass kein menschliches Wesen einen solchen Bombeneinschlag überleben könnte. Die größte Tragik liegt allerdings in dem blinden, bedingungslosen Vertrauen, welches das Ehepaar der politischen Obrigkeit entgegenbringt - selbst ganz zum Schluss klammern sie sich noch an den schützenden Gedanken, die Regierung werde sicherlich irgendwie dafür sorgen, dass am Ende alles gut ausgeht.

Dies macht aus Wenn der Wind weht nicht bloß einen geschickten Kommentar zur verblendeten "Früher war alles besser"-Generation, sondern auch ein zeitloses, regierungskritisches Manifest, das ganz präzise und offen die Problematik am Denken vieler Menschen analysiert: Von diversen Verdrängungsmechanismen, über Glorifizierung und Romantisierung des Krieges bis hin zu geringer Weltoffenheit und einem sturen Schwarz-Weiß-Blick auf alle Dinge weltpolitischer Relevanz.

Doch selbst wer weniger in Wenn der Wind weht sieht, dürfte seinen Gefallen an diesem Werk finden. Denn neben seinem politischen Subtext lässt sich der Film außerordentlich viel Zeit für die beiden liebenswert-schrulligen Hauptfiguren und stellt mitunter auch aus emotionaler Sicht ganz großes Kino dar. Wer am Ende nämlich nicht wenigstens tränenfeuchte Augen oder einen schweren Kloß im Hals verspürt, der kann kein fühlendes Wesen sein.

Platz 6: Szenen einer Ehe von Ingmar Bergman

Beunruhigende Dekonstruktion der trauten Zweisamkeit des Ehelebens.

Szenen einer Ehe ist so ehrlich und lebensnah, dass es fast schon wehtun könnte. Langsam und subtil nimmt Ingmar Bergman in dieser konsequenten, mehrstündigen Abrechnung Szene für Szene aus dem gemeinsamen und später entzweiten Leben eines Ehepaars auseinander und geht dabei schmerzhaft direkt auf das Zwischenmenschliche ein, das immer wieder in den mal hitzigen, mal zärtlichen Wortgefechten der beiden Lebenspartner zum Vorschein gerät. Somit wäre es geradezu verachtend, den Film lediglich auf seine Kritik an der Institution Ehe herunterzureden, denn Szenen einer Ehe dreht sich nur teils um das Eheleben sowie dessen unzählige Probleme und Widrigkeiten. Vielmehr geht es um den Menschen selbst. Es geht um menschliches Zusammenleben, um Konflikte, Auseinandersetzungen, Hass, Versöhnung und letztlich sogar um (temporären) Frieden. Es ist ein filmisches Kollektiv, befestigt unter der omnipräsenten Frage, ob und inwieweit es für zwei menschliche Individuen überhaupt möglich sein kann, ihr gesamtes Leben gemeinsam zu verbringen, ohne dass es irgendwann zwangsläufig zu Entfremdung kommt.

Zu sehen, wie wenig sich Menschen - selbst nach Dekaden der harmonischen Koexistenz - im Grunde doch kennen und wie tief manche seelischen Abgründe oder Traumata begraben liegen können, ist absolut angsteinflößend. Als tragendes Element hierfür dienen in Szenen einer Ehe die kongenialen Dialoge: Aufbrausend, sich immer mehr anstachelnd, verletzend und versehen mit einer erschreckenden Lebensnähe bombardieren sich die beiden famosen Hauptdarsteller Liv Ullmann und Erland Josephson immer und immer wieder durch packende verbale Messerstichen und argumentative Attacken, woraus sich zudem nicht selten ein hintergründiges psychologisches Faktum erschließen lässt.

Die kammerspielartige Inszenierung nötigt den Zuseher außerdem dazu, seine Aufmerksamkeit voll und ganz auf die Differenzen der beiden Hauptfiguren und ihre unterschiedlichen Sichtweisen beziehungsweise Lebensphilosophien zu richten. In den bewegendsten Momenten des Films kommt dadurch nebst emotionalen wie tiefenpsychologischen Drehbuchansätzen sogar einiges an existenzialistischem Gedankengut zum Vorschein. Und das Tollste: So bemerkenswert Szenen einer Ehe in verschiedener Hinsicht auch sein mag, es ist noch nicht einmal Ingmar Bergmans bestes Werk.

Platz 5: Der Elefantenmensch von David Lynch

Unsere Gesellschaft steckt voller Monster - der Elefantenmensch ist aber keines davon.

Man kennt David Lynch, einen der unbestreitbar besten Regisseure unserer Zeit, für sehr viele Dinge, für eines jedoch nicht: Geradlinig erzählte Geschichten. Doch repräsentiert Der Elefantenmensch genau das - eine kohärente Handlung, ganz ohne narratives Rätselraten oder sprunghafte, assoziative Bilderketten im Stile filmhistorischer Vorbilder wie etwa Luis Buñuel. Zwar kommen bei der einen oder anderen Kamerafahrt vor düsterer, schwarz-weißer Kulisse unweigerlich Erinnerungen an das beklemmendes Langfilmdebut Eraserhead auf, ja, bei der Eröffnungsszene mag man rein stilistisch gar an einen psychologischen Terrorfilm denken, doch ist Der Elefantenmensch im Grunde ein unerwartet stringentes, nichtsdestoweniger anspruchsvolles Drama. Und zugleich David Lynchs Ode an die Menschenwürde.

Der Elefantenmensch als Horrorfilm zu kategorisieren ist derweil gar nicht allzu abwegig, schließlich zeigt der Film die wohl erschreckendste Seite unserer Gesellschaft. In Der Elefantenmensch geht es um Intoleranz gegenüber allem Fremden und Andersartigen; schließlich wird jede als negativ empfundene Abweichung von der gesellschaftlichen Norm damals wie heute von eben jener Gesellschaft hart bestraft. Sei es durch Ausgrenzung und Stigmatisierung, durch Beleidigung und Diffamierung oder sogar durch physische Gewalt. All das muss John Merrick, Protagonist und Titelgeber von Der Elefantenmensch, tagtäglich über sich ergehen lassen, denn er wird von seinem sozialen Umfeld regelrecht zum Tier herabgewürdigt und auch wie ein solches zur Schau gestellt.

In uns als Zuseher bauen diese menschenunwürdigen Quälereien zusehends mehr und mehr an Wut auf, gefestigt dadurch, dass uns durchaus bewusst ist, welch intelligente, gebildete und liebenswerte Person John Merrick hinter seiner Maske ist. Dies beschreibt aber nicht lediglich eine Wut gegen die Peiniger Merricks, nein, vielmehr ist es auch eine Wut gegen uns selbst. Denn seien wir ehrlich: Wer hat bei der anfänglichen Enthüllung des Elefantenmenschen ob dessen angsteinflößenden Körpers nicht zumindest für einen kurzen Moment angewidert wegsehen wollen? David Lynch hält uns auf diese Weise den Spiegel vor die Nase und motiviert damit nachdrücklich, nicht nur gegen oberflächliche Vorurteile und soziale Diskriminierung vorzugehen, sondern diese auch in uns selbst zu finden und wenn möglich zu eliminieren.

Letztendlich ist Der Elefantenmensch jedoch - aller gezeigten Ungerechtigkeit zum Trotz - ein sehr warmer und ergreifender Film. Denn wenn Merrick endlich die Liebe, Zuneigung, Freundschaft und Anerkennung erfährt, die ihm zusteht, dann dürfte kein Herz ungerührt bleiben. Und wer nicht schon allein an der enormen Tragik der im Übrigen tatsächlich existenten Hauptperson zerbricht, dem wird spätestens das Ende die Tränen in die Augen treiben. Denn Der Elefantenmensch ist auch das emotionalste Werk des David Lynch.

Platz 4: Herbstsonate von Ingmar Bergman

Man beachte die Farbsymbolik!

Und schon wieder Ingmar Bergman. Dieses Mal jedoch mit einem Film, der weniger wehtut als er erlöst, ein Film wie eine milde Windböe im Herbst: So federleicht, so poetisch, so natürlich, so befreiend und dennoch so intim wie kaum ein anderes Werk des schwedischen Regisseurs. Im Vergleich zu Szenen einer Ehe geht es auch in Herbstsonate um den unterschwelligen Konflikt zwischen zwei familiär eng miteinander verbundenen Figuren. Gegensätzlich zur in Entzweiung mündenden Auseinandersetzung von Johan und Marianne aus Szenen einer Ehe, dreht sich das zusehends intensivierte Wechselspiel zwischen Mutter und Tochter in Herbstsonate aber zunächst um Rekapitulation, später um Konfrontation und schlussendlich sogar um Versöhnung, hebt sich also insgesamt durch seinen letztlichen Positivismus stark von Ingmar Bergmans restlichem Schaffen ab.

Herbstsonate ist einerseits ein verhaltenspsychologisch oder vielmehr psychoanalytisch orientiertes Figurenportrait, andererseits aber nicht weniger vehement eine metaphorische Abbildung der Oberflächlichkeit zwischenmenschlicher Beziehungen per se. Es wird gute Miene zum bösen Spiel gemacht, emotionale Defizite im Elternhaus werden toleriert, weil es die soziale Struktur der Gesellschaft eben so verlangt, fehlende Zuneigung wird akzeptiert, da die Protagonistin von Kinderbeinen an nichts anderes zu kennen scheint - und all dies zeigt selbst nach der Adoleszenz noch akute Auswirkungen auf deren Charakter.

Herbstsonate ist ein wundervoll strukturiertes und oft bildsprachlich kommunizierendes Charakterdrama über die Aufarbeitung ebenso wie die Bewältigung innerer Konflikte und somit höchstwahrscheinlich ein Film, der jeden Menschen zumindest ein Stück weit berührt. Ja, möglicherweise kann man während des Sehens von Herbstsonate - sofern man sich in dem Film tatsächlich wiederfinden sollte - gar eine läuternde Wirkung entdecken. Und das ist mit Sicherheit eines der bedeutsamsten Komplimente, die ich einem Film überhaupt machen kann.

Platz 3: Breaking the Waves von Lars von Trier

Oh, tut dieser Film weh...

Könnte man das Wesen von Breaking the Waves prägnant in einem Wort zusammenfassen, so würde dies mit Sicherheit unter dem Begriff der Sinnlichkeit geschehen. Ja, Breaking the Waves ist allerreinstes Gefühlskino und das im denkbar positivsten Sinne, ganz und gar frei von kitschiger Gefühlsduselei oder vorhersehbaren Plot-Stereotypen. Es ist kein Film, der sein Publikum lediglich emotional ansprechen oder berühren soll, sondern viel mehr als das: Breaking the Waves will sich zur Aufgabe machen, jede noch so winzige, menschenmögliche Emotion abzurufen und auf denkbar grausamste Art und Weise gegen den Zuseher auszuspielen, ohne dabei aber gewollt oder konstruiert zu erscheinen. Zu Recht lässt sich bei diesem Film also von einem Wechselbad der Gefühle reden - ständig wird man unaufhaltsam hin und hergerissen zwischen Wärme und Kälte, Nähe und Distanz, Freude und schmerzlicher Sehnsucht, Glück und Sorgen, Melancholie und Depression.

So gelingt es Lars von Trier noch präziser als in seinen anderen großen Werken, die weibliche Hauptperson als unumgängliche (emotionale) Identifikationsfigur aufzubauen, zumal es dem Zuseher relativ schwer gemacht wird, sich nicht unmittelbar sowohl in ihren zerschundenen Charakter als auch ihren inneren Konflikt hineinzuversetzen. Womöglich ist Breaking the Waves auch genau deswegen der ultimative Lars von Trier-Film: Alle für den Regisseur charakteristischen - stilistischen wie thematischen - Motive finden sich in Breaking the Waves wieder; von der weiblichen, schwer gezeichneten Protagonisten, über die Untergliederung in verschiedene Kapitel oder die religiösen und sexuellen Inhalte bis hin zur Depression der Hauptfigur, in die sich Lars von Trier vermutlich wie so oft zu einem Teil selbst hineinschreibt. Formal betrachtet ist Breaking the Waves also nahezu makelloses Kino und auch thematisch, sofern man dem Regisseur an sich nicht abgeneigt ist, ebenfalls sehr ansprechend. Und dennoch bleibt die größte Stärke des Filmes weitestgehend eine rein Emotionale.

Immer wieder verblüfft es mich, wie viel Empathie Lars von Trier für seine Charaktere erübrigen kann und wie viel er sich am Ende, trotz all der Härte und Brutalität, noch um ihre Schicksale kümmert. Beweis genug hierfür trägt allein die kraftvolle Schlusseinstellung. Wer dadurch keinen Frieden findet, trotz des lange bleibenden Gefühls der Ausgezehrtheit, Nacktheit und vielleicht sogar Einsamkeit, der sollte am besten seine eigene Menschlichkeit hinterfragen. Denn Breaking the Waves ist ein unmenschlicher Film, wie er menschlicher nicht sein könnte.

Platz 2: Eyes Wide Shut von Stanley Kubrick

Die Maske ersetzt den Menschen...

Sicher, zu schreiben, die Menschheit hätte Stanley Kubrick gleich mehrere der größten Meisterwerke unserer Filmgeschichte zu verdanken, ist in etwa so redundant wie die Behauptung, Wasser sei nass oder Gras wäre grün. Ja, es steht freilich ganz außer Frage, dass Filme wie 2001: Odyssee im Weltraum, Uhrwerk Orange, Barry Lyndon oder Shining - um einmal seine vier größten Stücke hervorzuheben - das Medium Film nachhaltig bereichert, ganze Generationen von Cineasten inspiriert, sowie die Kunstgeschichte als solche entscheidend geprägt haben dürften. Nur bedauerlich, dass ausgerechnet Stanley Kubrick Abschlusswerk Eyes Wide Shut von vielen Kritikern mit eher gemischten Gefühlen wahrgenommen wird. Besonders deswegen, da der Regisseur im letzten Film seiner umfangreichen Karriere alles bisher gelernte Wissen, alles Können, alle Erfahrung vereinigt und somit einen denkwürdigen Schlussstrich unter seine mehr als beeindruckende Filmographie zieht.

Natürlich wäre es kontraproduktiv, Eyes Wide Shut an den besten Werken seiner Hauptschaffensphase zu messen, dafür fehlt dem Film sowohl ästhetisch als auch inhaltlich einfach die gewisse Erhabenheit. Doch nichtsdestoweniger steht Eyes Wide Shut denkbar nahe an der Schwelle zum Meisterwerk. Inhaltlich bewegt sich der Film sogar auf Gefilden, die Stanley Kubrick bis dato wiederholt gekonnt umschiffte - womöglich, da er sie selbst nie wirklich verstand. Es geht um Gefühle, um zwischenmenschliche Interaktion, um Liebe, Versuchung und unerfüllte Sehnsüchte. Kurz gesagt: Es ist ein unfassbar nahe am Menschen verankerter Film, in seinem Kern vergleichbar mit dem niedriger platzierten Szenen einer Ehe.

Im Gegensatz zu Ingmar Bergmans Werk widmet sich Eyes Wide Shut allerdings nicht nur dem Innenleben zweier Hauptpersonen und deren gemeinsamer Ehe, sondern verlegt die Handlung gleich eine ganze Stufe tiefer, transportiert einige für den Menschen elementare Konflikte sogar auf eine subtextuelle Ebene und untermauert diese visuell durch vielerlei hintergründige Symbolik sowie versteckte inszenatorische Details. Drehbuch und Regie lechzen förmlich nach Perfektion - was auch weitestgehen gelingt - und erschaffen im virtuosen Zusammenspiel einen komplexen, gehaltvollen und bedeutungsschwangeren Film, dessen schiere Doppelbödigkeit sich vermutlich erst nach mehrmaligem Ansehen entschlüsseln lässt. Wer sich dennoch für eine bescheidene Dechiffrierung interessiert, dem sei an dieser Stelle meine Analyse (klick mich) zum Thema nahegelegt.

Zugegeben, selbst für Stanley Kubricks Verhältnisse stellt Eyes Wide Shut letztlich einen sehr gewöhnungsbedürftigen, für viele Rezipienten sicherlich frustrierenden Beitrag dar. Wer jedoch der tieferen Filmanalyse nicht abgeneigt ist, der wird hier einerseits intellektuell befriedigt, auf der anderen Seite aber ebenfalls mit einem wunderschönen, geradezu befreienden Filmerlebnis honoriert. Großes Kino war selten verkannter.

Platz 1: Dogville von Lars von Trier

Die Theaterinszenierung bricht das Medium aufs absolut Elementare herunter.

Dogville ist ein Meisterwerk. Mit diesem schlichten Satz wäre Lars von Trier und seinem in jedweder Hinsicht bahnbrechenden Film prinzipiell schon ausreichend Tribut gezollt, schließlich vernimmt man von mir nicht alle Tage einen so hochgestochenen, wenngleich nicht unbegründeten Superlativ. Doch ist es auf der anderen Seite zweifelsohne schade, Dogville auf eine derart knappe und argumentationsarme Weise abzuhandeln, wo es doch so vieles über dieses avantgardistische Werk zu berichten gibt.

Einen Film von Lars von Trier sehen zu dürfen ist zunächst so gut wie immer ein Erlebnis der ganz besonderen Sorte. Doch selbst unter den großartigsten Filmen des Regisseurs ist Dogville immer noch ein Ausnahmefall. Ja, möglicherweise handelt es sich bei Dogville sogar um einen der potenziell besten Filme des bisherigen Millenniums; ein cineastisches Monument - allein aus konzeptioneller Sicht. Eine Schlüsselrolle spielt in diesem Zusammenhang die Entscheidung, das gesamte Szenenbild auf eine minimalistische Theaterkulisse zu beschränken, denn einerseits geht dieser einzigartige inszenatorische Kniff Hand in Hand mit der Meta-Ebene des Films - ähnlich wie sich visuell auf das absolut Wesentliche konzentriert wird, passiert dies auch auf der Handlungsebene, besonders auf der menschlichen Beziehungsebene - andererseits dekonstruiert Lars von Trier somit im übertragenen Sinne das Filmmedium als solches, beziehungsweise die Erwartungen des Publikums an jenes.

Fein säuberlich seziert Dogville sowohl die im Menschen vorhandenen Konflikte als auch das Gewohnheitsdenken vieler Rezipienten und eröffnet damit das Tor zu einem auf seltsame Art und Weise unrealen, aber nicht minder verzaubernden Filmerlebnis, das schließlich in etwas mündet, das ich persönlich als eine der mit Abstand besten, durchdachtesten und konsequentesten Abschlussszenen bezeichnen würde, die jemals in einem Film realisiert wurden. Doch worin liegt dies begründet?

Nun, Dogville zum ersten Mal zu sehen ist in etwa vergleichbar mit dem Lösen eines Puzzles, nur dass man das abgebildete Motiv hier erst beim Einsetzen des allerletzten Puzzlestücks und keine Sekunde davor erkennen kann. Soll heißen: Erst in der letzten circa fünfzehnminütigen Szene, eigentlich aber erst ganz zum Schluss - spätestens während des mit David Bowies Young Americans unterlegten, drastisch bebilderten Abspanns - wird klar, um was es in Dogville eigentlich geht. Gewiss, das Dorf Dogville kann durchaus als Symbol für ganz Amerika und die Einwohner Dogvilles als Symbolfiguren für das Denken einiger Amerikaner interpretiert werden, doch belässt es Lars von Trier nicht bei dieser zugegeben sehr subtilen Kritik.

Vielmehr geht es um die moralische Fehlerhaftigkeit der Menschheit als Ganzes, was im besten Fall sogar den geneigten Zuseher zur Selbstreflektion anregen sollte. Trotz seiner exorbitanten Brutalität hat das Ende von Dogville nämlich einen enorm befriedigenden Charakter, gleich einer Katharsis. Ja, wenn die Peiniger in Dogville, die Menschen, die selbst Grace - die Gnade - verunreinigt und zum Negativen verändert haben, schlussendlich ihre scheinbar gerechte Strafe erhalten, dann jubelt man innerlich, feiert ganz instinktiv die kompromisslose Exekution. Woher jedoch nehmen wir uns das Recht, den brutalen Mord an einer ganzen Gruppe von Menschen, darunter sogar Kinder und ein Säugling, zu legitimieren, ihn gutzuheißen, gar zu befeuern? Macht uns das nicht zu moralisch fragwürdigeren Personen als es die Einwohner Dogvilles je sein könnten? Nicht umsonst scheint der in der letzten Einstellung wie aus dem Nichts erscheinende Hund anklagend nach oben zu blicken, die Kamera und indirekt das Publikum anzubellen - ein tieftragisches, bittersüßes und intelligentes Ende, passend zu einem bewegenden, kongenial geschriebenen und alles Bekannte hinterfragenden Film wie Dogville.

Und noch etwas macht die Schlussszene einzigartig: Das Erscheinen des Hundes am Ende hebt erstmalig die ungeschriebenen Regeln der Theaterinszenierung auf, macht aus den Zeichnungen am Boden des Bühnenbilds ein echtes Lebewesen. Repräsentativ steht dieser Schlussakkord für eine Metamorphose des gesamten Films - was zuvor im Kern eher allegorisch oder von der Realität losgelöst wirkt, wechselt mit der finalen Einstellung in die reale, gegenwärtige Welt. Verleiht diese Tatsache dem letzten Gewaltakt in Dogville nicht eine gewisse Endgültigkeit, eine entsetzliche Lebensnähe? Zu Recht, würde ich sagen. Schließlich sind die behandelte Themen beziehungsweise deren Problemstellungen keineswegs fiktiver Natur. Sie existieren wirklich. Und das verunsichert mich mehr als alles andere.

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