Neandertaler, die mit Bomben werfen — Ist Far Cry Primal lehrreich?

24.02.2016 - 16:00 Uhr
Far Cry Primal
Ubisoft
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Far Cry Primal führt uns nicht in die Steinzeit, sondern konfrontiert uns mit einer sehr eigenwillige Interpretation dieses Abschnitts der Menschheitsgeschichte. Aber ist das wirklich schlimm? Ist Far Cry Primal trotzdem lehrreich?

Ein Spaziergang durch Oros, die Welt von Far Cry Primal, grenzt an einen Kur-Urlaub. Weitläufige Wiesen wechseln sich mit dichten Wäldern und gigantischen Gebirgszügen ab. Immer wieder sehen wir Tiere durch das Gebüsch jagen, Vogelschwärme fliegen erschrocken auf und irgendwo brummt ein Mammut. In diesen Momenten fühlt sich Ubisofts Spiel wie eine Zeitmaschine an, die uns direkt in die Steinzeit katapultiert hat.

Sobald allerdings einige Szenen später unsere handzahme Eule beginnt, Feuerbomben auf ein befestigtes Lager regnen zu lassen, Neandertaler mit Giftgas-Behältern nach uns werfen und wir mit einem automatischen Enterhaken Steilwände erklimmen, dann sehen wir plötzlich hinter die Kulissen: Nein, Far Cry Primal ist keine Steinzeit-Simulation, sondern ein Spiel, das auf der Steinzeit basiert. Das ist ein wichtiger Unterschied.

Hinter der Steinzeit-Fassade geht es teilweise sehr modern zu.

Aber ist das eigentlich so schlimm? Und können wir nicht doch etwas von Oros und seiner Welt lernen? Oder ist das alles doch nur verfälschender Fantasy-Blödsinn, der einen Korrekturstift mehr als nötig hat?

Die Faszination des Selber-Machens

Grundsätzlich kann Far Cry Primal mit der Steinzeit machen, was es möchte. Es gibt keinen Hohen Rat der Urzeitforscher, die eine Vorabversion des Spiels auf seine historische Authentizität abklopfen und angesichts der bereits angesprochenen Eulen-Bomber mit dicken Indizierungsbalken zum Sturmangriff übergehen. Allerdings bietet sich der schielende Blick in die Geschichtsbücher durchaus an, wenn ein Spiel so offensichtlich einen Abschnitt der Menschheitsgeschichte zitiert: Wo war es Ubisoft wichtig, den Schein der Realitätsnähe zu wahren? Und warum eigentlich?

Im Gegensatz zum klassischen Geschichtsunterricht sind Videospiele hervorragend dafür geeignet, uns mit historischen Themen vertraut zu machen, weil wir selbst interagieren, ausprobieren und erkunden dürfen. Gut, Lernspiele der 1980er Jahre sind ein Sonderfall — oder hattet ihr Bauchschmerzen vor Spaß, als das Alien ADDY euch erklärte, wie Bruchrechnen funktioniert? Nein.

Lernspiele wie ADDY Junior versuchten, Kindern Mathe und Rechtschreibung schmackhaft zu machen.

Ich erinnere mich noch gut an meinen Geschichtslehrer, der absolut kein Talent dafür hatte, die dramatischen und bedeutungsschwangeren Ereignisse der Vergangenheit interessant zu vermitteln. Als mir der Weihnachtsmann dann Assassin's Creed in die Hände drückte, erlebte ich einen echten Aha-Moment. Plötzlich wurde ich zu einem Teil der Geschichte, bekam ein Gefühl für das bunte Treiben in den mittelalterlichen Metropolen und durfte berühmte Bauwerke aus der Nähe und maßstabsgetreu ansehen. Ich begann mich bald ganz gezielt über einzelne Personen und Ereignisse zu informieren, die im Spiel angesprochen wurden. Dabei war es für mein gewecktes Interesse völlig unerheblich, ob die Stadtmauern von Jerusalem dem archäologischen Befund entsprachen oder dass meine Waffen einem kunterbunten Durcheinander aller Epochen entsprangen.

Diese Motivation durch ein Spiel oder einen Film, sich selbst mit einem Thema intensiv zu beschäftigen, wird in der Psychologie als Tangentiales Lernen ("Tangential Learning") bezeichnet und auch Far Cry Primal ist auf eben diesen Schienen unterwegs. Es kann natürlich durchaus unterhaltsam sein, wenn ein Paläontologe auf Oros losgelassen wird und augenzwinkernd über Kampf-Eulen und Napalm-Angriffe lästert. Doch ist historische Authentizität nichts, was Videospiele erfüllen müssen, um sich in einem historischen Schauplatz austoben zu dürfen oder um uns etwas beibringen zu können. Die jeweilige Spielwelt ist eine Bühne für die Ideen der Entwickler, keine unüberwindbare Mauer, an der die Kreativität zerschellen soll. Daher halte ich es auch für Blödsinn, mit an Verärgerung grenzender Kritik diese und jene Stellen hervorzuheben, an denen Ubisoft vermeintlich gepfuscht haben soll.

Mir völlig egal, ob diese Häuserreihen korrekt aufgebaut sind — die Welt begeistert mich trotzdem.

Umso mehr überraschte mich, dass Far Cry Primal zwischen all den verrückten Erfindungen durchaus Elemente und Themen platzieren, die sich sehr nahe an der historischen Realität bewegen. Ein kleines Beispiel soll euch diese Beobachtung veranschaulichen.

Evolution in Aktion

In typischer Videospielmanier schnetzeln wir uns im Laufe des Spiels 15 bis 30 Stunden durch die Kehlen und Brustkörbe der beiden feindlichen Stämme ohne mit der Wimper zu zucken. Wir drängen auf eigene Faust zwei Völker an den Rand der völligen Vernichtung, zeigen aber dennoch weiterhin mit dem Zeigefinger auf die Udam und Izila: "Das sind doch die Bösen, schau mal, wie fies die zu uns sind!" ruft Protagonist Takkar, während ich meinen Kill-Counter in dreistellige Bereiche hochschraube.

Bereits in meinem Review  schrieb ich über dieses scheinbare Ungleichgewicht zwischen Worten und Taten meines virtuellen Ichs. Ich rechne Ubisoft hoch an, dass sie schließlich doch auf eine überraschend tiefsinnige Art und Weise die Gewalt gegenüber den anderen Stämmen aufgriffen und reflektieren. Zwei spielbare Sequenzen, die Vision des Eises und die Vision des Feuers, lassen uns tief in die Herzen der Udam und Izilia blicken, die wir bis dahin nur als "die Bösen" kennengelernt haben.

Die Udam sind die Neandertaler von Oros.

Wir erfahren, dass die Udam stark mit den frostigen Temperaturen und einer Seuche kämpfen müssen, die Frauen, Männer und Kinder niederstreckt. In der Vision des Eises wandern wir durch die kraftlosen Reihen der Stammesmitglieder, hören Eltern über den leblosen Körpern ihrer Kinder trauen und sehen, wie mehr und mehr Stammesangehörige verzweifelt zu einer gigantischen Statue beten: Eine extrem vergrößerte Version der Venus von Willendorf, eine Statuette der urzeitlichen Fruchtbarkeitsgöttin. Unsere Aufgabe in dieser Vision ist es, die Statue zu zerstören und die Krieger zu töten, die uns daran hindern wollen. Unsere Angriffe werden auf einmal zu frostigen Eishieben, Gegner frieren ein und zerspringen. Plötzlich sind wir nicht mehr der Krieger Takkar, sondern der unerbittliche Winter selbst, der die Udam auslöscht und schließlich auch die Gottheit, das Symbol der Hoffnung für einen ganzen Stamm, in tausend Scherbenteile zerspringen lässt.

Die Vision des Feuers funktioniert auf ähnliche Weise. Wir werden Zeuge davon, wie die Izila durch einen Vulkanausbruch um ihre Lebensgrundlage betrogen wurden und seitdem das Feuer als Gottheit anbeten. In der kurzen Sequenz wächst uns eine Rüstung aus Lava und unsere Feuerpfeile lassen Asche auf die Stammesmitglieder und ihre Häuser regnen. Auch diese Vision endet mit der Zerstörung des Heiligtums der Izilia und unzähligen toten Männer und Frauen, die sich zwischen uns und ihren Gott stellen wollten.

Die Izila beten das Feuer an, doch war das nicht immer so.

Mit diesen Visionen schnallt uns Far Cry Primal eine Bürde auf, die wir von anderen Action-Rollenspielen nicht gewohnt sind. Ubisoft sensibilisiert uns zum einen für unsere Taten und die Gewalt, die wir "den Anderen" antun, indem wir einen intimen Blick auf die fremden Stämme werfen dürfen. Indem die Entwickler für einige Minuten Takkar zur Seite schieben und uns selbst zur Naturgewalt machen, zitieren sie gleichzeitig aber auch gängige Theorien, die das Aussterben verschiedener Populationen erklären wollen.

"Evolution in Aktion" heißt eines der letzten Achievements, das wir entlang der Hauptgeschichte freischalten und tatsächlich steckt hinter diesen Worten eine Menge Wahrheit. In Far Cry Primal schnallen wir nicht nur Bomben an Eulen und zähmen Wildtiere mit einem gezielt geworfenem Steak, sondern erhalten auch einen kurzen, aber durchaus authentischen Einblick in die Geschichte der Menschheit selbst. Aus dieser Perspektive ist Far Cry Primal ein sehr intelligentes Spiel, das sich nicht dem künstlichen Zwang unterwirft, sich zwischen Fantasy-Spiel oder historischer Simulation entscheiden zu müssen.

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