Netflix weckt falsche Erwartungen: Das steckt wirklich hinter Der weiße Tiger

23.01.2021 - 09:15 UhrVor 3 Jahren aktualisiert
Der weiße Tiger
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Der weiße Tiger
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Der große Netflix-Film der Woche hört auf den Namen Der weiße Tiger. Entgegen dem knalligen Poster handelt es sich jedoch um ein niederschmetterndes Drama.

Schon mehrmals ist mir das Poster zum Netflix-Film Der weiße Tiger aufgefallen, als ich durch meine Twitter-Timeline gescrollt habe. Das knallige Türkisblau reißt meine Aufmerksamkeit auf sich. Heraussticht außerdem eine kleine gelbe Krone, die in Form eines Graffitis auf dem Kopf der Hauptfigur sitzt. Dazu kommt ein breites Grinsen und ein motivierender Satz: Nimm dein eigenes Schicksal in die Hand!

Der weiße Tiger

Was ich mir davon erwartet habe: Eine Aufstiegsgeschichte mit jeder Menge Feel-Good-Vibes. Davon gibt es unzählige, besonders bei Netflix. Ein*e Außenseiter*in kämpft sich ihren Weg nach oben und erlebt ungeahnte Höhenflüge und Niederlagen. Alles schon gesehen, manchmal ist so ein aufbauender Film nach einer anstrengenden Woche aber ganz wohltuend. Doch Der weiße Tiger könnte nicht weiter davon entfernt sein.

Neu auf Netflix: Der weiße Tiger ist kein Feel-Good-Film

Bereits in den ersten Minuten des Films stellt Balram Halwai (Adarsh Gourav) klar, dass ihn die nachfolgende Geschichte nicht im schmeichelhaftesten Licht dastehen lässt. Seine Stimme aus dem Off kündet zwar von Humor und einer gewissen Unbeschwertheit. Das, was Balram erzählt, zieht allerdings nicht leichtfüßig vorbei. Gleich mehrere schockierende Ereignisse finden sich in den zwei Stunden von Der weiße Tiger.

Balram wächst in ärmlichen Verhältnissen in einem indischen Dorf auf. Seine Familie ist sehr konservativ und verwehrt ihm jeglichen Bildungsweg. Dennoch versucht er, als Chauffeur für den erfolgreichen Unternehmer Ashok (Rajkummar Rao) und dessen Frau Pinky (Priyanka Chopra Jonas) der Einbahnstraße seiner Heimat zu entkommen. Freiheit und Unterdrückung liegen aber weiterhin dicht beieinander.

Hier könnt ihr den Trailer zu Der weiße Tiger schauen:

Der weiße Tiger - Trailer (Deutsch) HD
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Basierend auf dem gleichnamigen Roman von Aravind Adiga* hat Regisseur und Drehbuchautor Ramin Bahrani (bekannt für 99 Homes) einen Film geschaffen, der sich als düsterer Gegenentwurf zu Slumdog Millionär versteht. Keine große Liebesgeschichte, keine mitreißenden Montagen und erst recht keine Musical-Einlage: Der weiße Tiger präsentiert sich grüblerisch. Er steckt voller ertragenem Leid.

Netflix' Der weiße Tiger ist ein düsterer Slumdog Millionär

Sobald Balram seiner Familie den Rücken kehrt, wird er von der Welt und ihren Möglichkeiten überwältigt. Die Wahrheit ist jedoch, dass er nur einen winzigen Spalt in diese Welt blicken kann. Allein dieser Blick genügt Balram, um jeden Tag hoch motiviert aufzustehen und sein Tagwerk zur vollsten Zufriedenheit seines "Meisters" zu vollbringen. Er rutscht von einem Abhängigkeitsverhältnis in das nächste.

In Balrams Kopf existiert eine genaue Vorstellung davon, wie die Dinge in Indien laufen. Er kennt das System, seine Fehler und Lücken - und macht sie sich geschickt zunutze. Dennoch tritt er nie den einen Schritt zurück, um das größere Bild zu betrachten. Erst, als es zu spät ist, merkt er, dass er nichts von dem zurückbekommt, dass er in seine Beziehung zu Ashok investiert hat. Im Gegenteil: Ihm wird noch mehr genommen.

Der weiße Tiger

Wie Balram die Geschichte erzählt, erlebt er seinen eigenen The Wolf of Wall Street. Das erklärt auch die Krone auf dem Poster: Für einen kurzen Augenblicke erweckt Balram den Eindruck, als hätte er sein Leben unter Kontrolle und würde ausschließlich Entscheidungen treffen, die ihm einen persönlichen Vorteil verschaffen. Was er vergisst, sind die Hände, die mit vermeintlich behütender Geste auf seinen Schultern liegen.

Der weiße Tiger erzählt von Wut und Ungerechtigkeit

In Wahrheit drücken ihn die Hände nach unten oder schubsen ihn direkt in den Abgrund. Es dauert lange, bis er sich die Ungerechtigkeit eingesteht, die ihm widerfährt, genauso wie die Wut, die in ihm brodelt. In Erinnerung kommt die Berlin Alexanderplatz-Verfilmung aus dem letzten Jahr. Auch hier folgen wir einer Figur, deren Vorstellung von Freiheit durch die Abhängigkeit zu anderen Menschen auf die Probe gestellt wird.

Das Poster deutet den niederschmetternden Charakter des Films zwar versteckt an. Durch die insgesamt sehr irreführende Aufmachung geht dieser dezente Hinweis aber unter. Der weiße Tiger ist deutlich komplexer. Trotzdem bleibt am Ende ein unbefriedigendes Gefühl, da Ramin Bahrani die Konflikte durchexerziert, anstelle sich in ihnen zu verlieren. Alles wirkt sorgfältig vorbereitet und aufgesagt - ohne die filmische Wucht, die sich definitiv in der Geschichte versteckt.

Der weiße Tiger steht ab heute, dem 22. Januar 2021, auf Netflix als Stream zur Verfügung.

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