"Plötzlich wurde ich wütend!" — Religion, Spiele & das große Problem

11.02.2016 - 17:00 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
BioShock: Infinite
2k Games
BioShock: Infinite
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Videospiele zitieren ständig Bilder und Themen, die gläubigen Menschen sehr gut vertraut sind. Ein genauer Blick auf die Darstellung von Religion in den virtuellen Welten deckt allerdings ein großes Problem auf: Religion ist zum Klischee verkommen.

Religion ist ein wesentlicher Bestandteil der Videospielkultur, selbst wenn wir die zahlreichen und regelmäßigen Anspielungen auf religiöse Konstrukte oft nicht bewusst wahrnehmen. Beispielsweise dreht sich das Konzept vieler Rollenspiele immer wieder um einen Neuankömmling, der von außen eine Spielwelt betritt und dessen Handlungen weitreichende Effekte auf die virtuelle Bevölkerung haben. Ob nun der Überlebende in Fallout 4 oder der als Hexer von der normalen Gesellschaft ausgeschlossene Geralt von Riva: Diese Figuren und ihre Geschichte ziehen ihre Inspiration aus dem religiösen Motiv des Heilbringers, der als mächtiges Individuum starken Einfluss auf eine Gesellschaft ausübt, zu der er selbst nicht gehört.

Als Neuankömmling in der Post-Apokalypse nehmen wir viel Einfluss auf die Welt.

Das Schöpfen aus religiösen Schubladen bleibt bei diesen Beispielen allerdings nur eine einfache Grundlage, die das Spiel nicht weiter aufgreift oder reflektiert. Selbst in der Welt von Mass Effect, in der Religionen von Aliens durchaus eine relevante Rolle spielen, ist der Name "Shepard", also Hirte, der einzige Verweis auf die christliche Glaubensvorstellung, der dieser Bezeichnung entstammt.

Neben dieser indirekten und subtilen Implikation von Religion stellen einige Videospiele immer wieder den Glauben ganz bewusst als Bestandteil ihrer Welt vor und fordern uns früher oder später dazu heraus, mit ihm zu interagieren. Trotz der zahlreichen Möglichkeiten, einen der ältesten Bestandteile des menschlichen Lebens darzustellen, sind die Religion und ihre Vertreter dabei zu einem Videospiel-Klischee geworden.

Der Zorn Gottes als Endgegner

Religionen treten in Videospielen nur selten namentlich als "das Christentum" oder "der Islam" auf, doch sind ihre konkreten Einflüsse in vielen virtuellen Welten spürbar und deutlich erkennbar. Die Welt von Biowares Dragon Age stellt eine stark institutionalisierte Kirche mit machtpolitischen Ambitionen einer Vielzahl von kleineren Kulten und Glaubensgemeinschaften gegenüber. Diese Kirche verehrte eine allmächtige, körperlose Schöpferkraft unter dem Namen "Der Erbauer" und glaubt an die Ankunft eines Propheten, der den Willen dieser allmächtigen Gottheit auf Erden vertritt. Doch ihre Ambitionen beschränken sich nicht nur auf das Jenseits: Priester und Kleriker versuchen ständig, Einfluss auf die Politik der Nationen auszuüben und sich möglichst viel Macht zu sichern, während sie betont rassistisch gegenüber nicht-menschlichen Rassen auftreten.

Die Kirche ist in der Welt von Dragon Age eine mächtige Institution.

Diese Rückbezüge auf die Strukturen und Politik der katholischen Kirche des Mittelalters steht stellvertretend für die Repräsentation von Religion in Videospielen: Uns sind diese Glaubensanhänger nicht sympathisch, wir empfinden sie als Gegenspieler — nicht nur in der Welt von Dragon Age.

BioShock Infinite persifliert im Laufe des Abenteuers das Christentum sowie baptistische Praktiken und lässt am Ende schließlich die Heilsbotschaft der Religion mit einem gigantischen Knall an der Menschheit scheitern. Als Bayonetta stürmen wir höchstpersönlich die Sphären Gottes und verpassen Engeln Kopfschüsse, während uns die Taten eines fanatischen Kultes in Silent Hill noch bis in unsere Alpträume verfolgen. Dies sind nur einige wenige Beispiele, doch das Bild eines zornigen Gottes und seiner Anhänger als Endgegner beherrscht die Videospielkultur seit ihren Anfängen – von einigen recht misslungenen Bibelspielen abgesehen, die schlicht keinen Spaß machen . Selbst die bekannteren Gegenbeispiele bleiben im Vergleich zur Tiefe des negativen Extrems erstaunlich oberflächlich: Die Paladin-Klasse aus Diablo III zieht ihre Kraft zwar explizit aus dem Glauben an das Licht, welches gegen die Dunkelheit siegt und zitiert damit erneut christliche Glaubensinhalte — doch findet dieser positive Rückbezug auf Religion nur im Kontext der Gewalt statt. Mehr hat dieser Glaubenskrieger nicht zu bieten.

Der typische Gamer: Kritisch und gottlos?

Diese Tradition der negativen Darstellung und dieses fast ausnahmslos einheitliche Bild von Religion in Spielen formt unsere Erwartungshaltung maßgeblich: Natürlich erwarten wir von einer kirchlichen Institution in Spielen Zeichen von Machthunger, Korruption und Fanatismus, natürlich kommt ein gutes Fantasy-Spiel nicht ohne Totenbeschwörer und verblendete Glaubenskrieger aus.

Der Paladin ist ein Krieger Gottes — mehr bietet er allerdings nicht.

Dieses Weltbild scheint von Atheisten für Atheisten gemacht. Das Bild der virtuellen Religionen wirft keine Fragen auf, sondern bestätigt die Annahmen von nicht-gläubigen Spielern, die religiösen Systemen gegenüber kritisch eingestellt sind. Es ist ein möglicher Zugang für atheistische Spieler in die jeweilige virtuelle Welt, eine Identifikationsgrundlage. Doch diese Eintrittstür bleibt einer weiteren, großen Community verschlossen: Gläubige Spieler.

Wir neigen dazu, die Diskussionen rund um Videospiele aufgeklärt und emanzipiert zu führen: Reviews und Kritiken setzen sich nur selten mit dem typischen Bild der Religion auseinander, da dieser Darstellung unbewusst oft zugestimmt wird — selbst von gläubigen Spielern. Ähnlich verhielt es sich beispielsweise mit dem Bild der Frau in Videospielen, das über Jahrzehnte konservativ, einschränkend und sexistisch geprägt war und erst in der jüngsten Zeit als nicht mehr selbstverständlich hingenommen wird.

Eine solche Bewusstseinswandlung könnte und sollte auch das Bild der Religion in Videospielen vollziehen. Es gibt nicht den typischen Gamer, der kritisch und gottlos ist, sondern auch unzählige gläubige Menschen, die diese einseitige Darstellung der Religion alternativlos hinnehmen müssen.

Geduldete Einseitigkeit

Obwohl ich täglich durch meinen Beruf und meine Hobbies mit zahllosen Kritiken und Kommentaren rund um die Videospielkultur in Kontakt komme, entdecke ich nur sehr selten Texte religiöser Menschen über Spiele, quasi die Insider-Perspektive. Meine Recherche führte mich nun zu den überraschend zahlreichen Communites gläubiger Spieler, die sehr aktiv über Titel reflektieren, aber nur selten jenseits ihrer Grenzen gehört werden. Die GameChurch Deutschland  beispielsweise ist eine solche Gemeinschaft, die gläubige Spieler zusammenbringt und Austausch untereinander anregt.

Jesus mit Headset: Das ist die Botschaft der GameChurch.

Aber auch unabhängig von diesen Gruppierungen machen sich Gläubige Gedanken über das Bild der Religion in Videospielen. Auf meinen Twitter-Aufruf  und meine Rundmails an verschiedene eingetragene Glaubensgemeinschaften in Deutschland antworteten mir fast 100 Menschen mit verschiedensten religiösen Hintergründen. Sie erzählten mir von ihrer Art, mit Religion in Videospielen umzugehen. Dabei ergab sich ein überraschend einheitliches Bild.

Grundsätzlich finde ich (...) Themen aus dem religiösen Umfeld sehr spannend. Der Himmel — Hölle Gegensatz bietet ein tolles Setting für viele Rollenspiele, auch darf dabei mit Quellen und Religionsauslegung frei umgegangen werden. Ich hätte jetzt auch kein Problem damit, wenn zum Beispiel Heilige oder Jesus provokant dargestellt werden. Es fällt jedoch durchaus auf, dass Religion und Kirche oft eher negativ dargestellt werden. Als Religionskritik ist das meist sehr plump und meiner Meinung nach eher weniger geeignet.

(männlich, römisch-katholisch, 28 Jahre)

Durch ihren religiösen Hintergrund fällt gläubigen Spielern offenbar sehr viel bewusster auf, wie häufig Videospiele Glauben und seine Institutionen karikieren. Doch scheinbar können auch sie sich nicht dem Eindruck entziehen, dass das nun mal so sein müsse. Als Lösung für diesen Konflikt halten sich gläubige Spieler immer wieder das gleiche Credo vor Augen:

Videospiele sind nun mal Videospiele und haben mit der Realität nichts zu tun. Dann ist das schon okay.

(weiblich, Hindu, 24 Jahre)

Das ist ein ernüchterndes Fazit, zu dem sich gläubige Spieler immer wieder gedrängt sehen. Es scheint einfacher, jegliche Ambitionen von Videospielen, Einfluss auf unser Leben zu nehmen, zu verleugnen, um dafür relativ sorglos an der Spielkultur teilnehmen zu können. Doch auch dies ist nicht immer barrierefrei möglich: So berichten mir überwiegend christliche Spieler, dass sie zwar mit Mord und Gewalt in Videospielen dank der oft übertriebenen, abstrakten Darstellungen kein Problem hätten, allerdings kommt für sie nicht in Frage, Beschwörer-Charaktere oder Okkultisten zu spielen. Dieses Spielverhalten ist zwar eine Einschränkung, beschneidet die betroffenen Spieler in ihrer virtuellen Freiheit allerdings noch immer deutlich weniger, als wenn sie beginnen würden, aktiv über die Darstellung ihres Glaubens in Spielen nachzudenken.

Malzahar ist ein Champion in League of Legends, der als Beschwörer bezeichnet wird.

Diese geduldete Einseitigkeit der Darstellung von Religion und Glaube in Videospielen ist ein Problem. Und es ist wichtig, dieses Problem als solches endlich zu erkennen und festzuhalten. Aber wie könnte eine Lösung aussehen?

"Hirn aus, Spiel an!" ist eine individuelle Meinung, kein kollektives Motto

Es wäre sicherlich falsch, ab sofort von Entwicklern zu verlangen, Religion und ihre Institutionen nicht mehr zum Ziel von Persiflagen oder Satire zu machen. Videospiele dürfen diese Kritik üben oder sich frei aus dem reichen Schatz an Bildern und Themen bedienen — sie können uns aber noch so viel mehr bieten: Einen "Aha!"-Moment, eine Möglichkeit zum kritischen Hinterfragen. Sicherlich wollen das nicht alle Spieler, aber "Hirn aus, Videospiel an!" ist nicht das Motto der gesamten, weltweiten Community, sondern nur eine Meinung unter vielen. Leider neigen wir dazu, diese Tatsache auszuklammern. Auch andere Perspektiven verdienen ihre Spielplätze und einige wenige Beispiele haben bereits bewiesen, dass dieser Weg funktionieren kann.

Das 2013 erschienene Adventure The Shivah macht uns zu einem jüdischen Rabbi namens Russell Stone, der eine recht arme Synagoge in New York leitet. Er ist ein gläubiger Mensch, der aus finanziellen Gründen bald seine Gemeinschaft auflösen muss. Diese Einsicht macht ihn zunehmend zynischer und verbitterter, bis ein verstorbener Rabbi seiner Gemeinschaft eine riesige Geldsumme vermacht. Woher kommt diese riesige Summe? Und soll er sie einfach annehmen, um seine Synagoge zu retten?

The Shivah drängt einen gläubigen Rabbi an den Abgrund des Zweifelns.

Fragen wie diese fordern uns dazu heraus, unsere moralischen Vorstellungen mit dem Bild der Religion im Spiel abzugleichen — selbst, wenn wir sonst keinerlei Bezug zum Judentum in unserem Leben haben. Es ist ein einfacher und doch spannender Weg, in ein Gespräch mit anderen Glaubensrichtungen zu treten und Gedankenexperimente zu wagen.

Das jüngst erschienene That Dragon, Cancer bedient sich ebenfalls der Religion, um unser Hirn auf unerwartete Weise in Bewegung zu bringen. In einer Szene werden wir zum Teil einer christlichen Trauergemeinde: Die junge Familie, die ihren an Krebs leidenden Sohn langsam aus dem Leben verabschieden muss, versammelt sich in einer Kirche und versucht, sich selbst Trost zu spenden. Wir entzünden einige Kerzen und beobachten. Während christliche Spieler diese Szenen als Teil ihres Alltags erkennen, können sich auch Nicht-Christen mit dem Ritual aus der sicheren Perspektive des Beobachters auseinandersetzen. Und scheinbar hat dieses Erlebnis Spuren hinterlassen: Fast alle Reviews und Kritiken über das Spiel sprachen diese Szene an und beschrieben ein seltsames Unwohlsein und gleichzeitig ein Gefühl von Anteilnahme, als sie ein Teil der Trauergemeinschaft werden durften.

That, Dragon Cancer macht uns zum Beobachter einer Trauergemeinde.

"Plötzlich wurde ich wütend!" schreibt mir eine 19-jährige Jüdin. "Deine Fragen zeigen mir, wie unfair das eigentlich ist. (...) Wieso muss das alles so einseitig sein?" Die Antwort lautet: Es muss nicht so sein. Es liegt in unserer Hand, wie die Videospielkultur von morgen aussieht, wenn wir die Probleme von heute erkennen und endlich lösen. Davon profitieren letztendlich alle Spieler, ob nun streng gläubig, atheistisch oder Jünger des Spaghetti-Monsters.

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