Pokémon GO erfüllt mir einen Kindheitstraum – aber es gibt auch Haken

13.07.2016 - 18:30 UhrVor 7 Jahren aktualisiert
Pokémon GO
Nintendo/ The Pokémon Company
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Niantics Pokémon GO hat nun auch mein Smartphone erobert. Wie das Mobile-Spiel meinen lang ersehnten Kindheitstraum wahr werden ließ und welche Zweifel ich bezüglich Nintendos neuen Mobile-Ausflug hatte und habe, erfahrt ihr hier.

Es war ein ruhiger Morgen hier in Berlin-Britz. Der wolkenlose Himmel und die gut ausgeschlafene, vor Kraft strotzende Sonne deuteten ungeheuerlich warmes Sommerwetter an. Der heutige Arbeitsweg wird eine Qual, so dachte ich. Zwei Kilometer zur U-Bahn-Station mit einem vierzehn Jahre alten Fahrrad, das nach unzähligen zurückgelegten Kilometern und Sprüngen von Bordsteinkanten nur noch ein schlackerndes Aluminiumgestell ist – uff.

Noch ein lausiges Mobile-Game

Das, was meine bevorstehende Tortur in einen spaßigen Trip verwandeln sollte, befand sich nur zwei Berührungen des Touchscreens meines Smartphones von mir entfernt: Pokémon GO. Das gemeinsame Projekt von The Pokémon Company, Niantic und Nintendo lässt uns mithilfe unserer cleveren Telefone den beliebten Taschenmonstern nun im realen Leben nachjagen — eine Idee, die zu einer Zeit, in der Handys noch eine ausfahrbare Antenne hatten, bei manch einen als alberne Spinnerei gegolten haben musste.

Ich war äußerst skeptisch, als ich im vergangenen September den ersten Trailer zum Augmented Reality-Spiel sah: Ein weiteres lausiges Free-to-Play-Mobile-Game, das mit einem vielversprechendem Trailer daherkommt, aber uns letztendlich nur heiße Luft in die großen Augen bläst – mehr war Pokémon GO für mich zu diesem Zeitpunkt nicht.

Ganz so realistisch ist Pokémon GO dann doch nicht.

Verstärkt wurde mein Misstrauen nochmals im Frühjahr dieses Jahres: Am 31. März wagte sich Nintendo mit Miitomo  das erstmals in iOS- und Andriod-Gefilde. Die App, die als Mischung aus Social Media-Plattform und Freundschaftssimulator daherkam, entfachte seinerzeit eine gewaltige Hype-Welle, verstärkt durch den Wind, der durch Twitter und Co. wirbelte. Doch Miitomo entpuppte sich kurzerhand als immer gleich ablaufendes Frage-Antwort-Spielchen. Irgendwann waren mir die Lieblingsspeisen, präferierten Brotsorten und Shopping-Sünden meiner Mitmenschen bekannt. Wie es wohl meinem rundgesichtigen Mii geht? Lebt sie überhaupt noch? Und wenn schon...

Miitomo versprach ein witziges, eigenartiges Konzept, das aber für mich nach einer Woche schon an Reiz verlor. Pokémon GO, so vermutete ich, würde ebenfalls schnell die Puste ausgehen. Wie soll ein Handy-Ableger der Pokémon-Reihe, der auf vergleichsweise komplexe JRPG-Mechaniken verzichtet, jemals Tiefe erzeugen und mir ein ähnliches Spielerlebnis bescheren, wie es die farbenfrohe Auswahl der bisher erschienenen Pokémon-Editionen für die Nintendo-Handhelds tat? Wie soll ein solches Spiel mich langfristig an sich binden? Was für eine Art Spielerfahrung soll ich mir überhaupt von Pokémon GO versprechen?

Die Welt wird zu Kanto

Die Antwort auf letztere Frage liegt eigentlich schon seit dem angesprochenen ersten Trailer zum Spiel auf der Hand: Mit dem Handy, GPS und der Pokémon GO-App im Gepäck bewegen wir uns vorzugsweise auf Schusters Rappen durch reale Straßen, Felder und Wälder, die mithilfe des AR-Effektes des Spiels zu Horten werden, an denen wir 3D-modellierte Pokémon fangen können. Das, was Niantics Mobile-Spiel darüber hinaus für mich bedeutet, hat sich mir aber erst während des Spielens erschlossen.

Mehr: Pokémon GO – Die wichtigsten Tipps für Einsteiger  

Letztendlich warf ich meine Skepsis doch über Bord und räumte für die App einen Platz auf meinem Smartphone frei. Da stand ich nun, den Rucksack auf dem Rücken, die Schuhe fest zugeschnürt, die Trainer-Schirmmütze zurechtgerückt. Im Gestrüpp vor meiner WG ein Taubsi, im kleinen Park neben dem Britzer Garten ein Blutzuck, an der Treppe vor der U-Bahn-Station Alt-Mariendorf ein Rattfratz – mit Pokémon GO schlüpfte ich an diesem einen ruhigen Morgen in Berlin-Britz in die Kluft einer echten Pokémon-Trainerin, die mit glänzenden Augen und schweißigen Fingern unentwegt Pokébälle auf starre kleine 3D-Monster warf.

Nebulak, die Ausgangsform von Gengar, findet ihr u.a. auf Friedhöfen.

Am liebsten würde ich meinem achtjährigen Ich von Pokémon Go erzählen. Sie würde vermutlich die Arme in Richtung Himmel reißen, Luftsprünge machen und ihr kleines Herz nicht mehr stillhalten können. Vor über fünfzehn Jahren lief ich mit einigen Plastik-Pokébällen und einem Pikachu-Tamagotchi, das Pokémon Gelb beilag, über die Wiese vor dem Haus meiner Großeltern. Auf und ab, kreuz und quer. Nachmittag für Nachmittag klapperte ich stoisch das hohe und dann irgendwann wieder frisch gemähte Gras ab, um mir die geliebten Monster aus den Game Boy Color-Spielen gedanklich in die Realität zu holen. Die Taubsis, Pikachus und Glumandas, denen ich dort begegnete, existierten seinerzeit nur in meinem Kopf. Heute tummeln sich die Taschenmonster auf Gehwegen, zwischen Mülltonnen oder gar auf Toiletten, Kochvorrichtungen und Sportgeräten im Fitnessstudio . Das einzige, was mich nun noch von ihnen trennt, ist der 5-Zoll Bildschirm meines Handys und das bisschen Technik drumherum.

Pokémon GO erscheint wie der wahr gewordene Wunsch eines jeden Kindes, das in den Neunzigern mit dem gleichnamigen Anime und den RPGs für den Game Boy aufgewachsen ist. Es ist diese unsägliche Neugier, die Pokémon GO befriedigt: Wir entdecken Psycho-Pokémon wie Pantimos in der Nähe von Krankenhäusern , Drachen-Pokémon wie Dratini an populären Wahrzeichen und Wasser-Pokémon wie Tentacha an Flüssen , Bächen und Kanälen. Schier ohne Rast und Ruh scharen sich derzeit unzählige Sammlerinnen und Sammler an den verschiedensten Orten ihrer Heimatstädte, nicht nur um Pokémon zu fangen, sondern auch um ihr kindliches Ich wieder zum Leben zu erwecken.

Und wenn das Abenteuer zum Müßiggang wird?

Es klingt wie ein romantisch anmutendes Zukunftsmärchen: Ein Kind hat einen Traum; es wächst heran und mit ihm die technischen Möglichkeiten, die seinen Traum nach vielen Jahren endlich erfüllen. Mit dem Alter wächst aber auch der Anspruch bei gleichzeitig schwindender Zeit und der Fähigkeit, sich langfristig für eine Sache begeistern zu können. Das ist die Krux des Erwachsenseins und der bittere Beigeschmack dieser entzückenden Geschichte. Und damit wären wir wieder bei meiner anfänglichen Skepsis: Um nach anfänglichem Jubel nicht an Zugkraft zu verlieren, steht Pokémon GO folglich vor der Herausforderung, Langzeitmotivation zu schaffen.

Bislang können wir lediglich die 151 Pokémon der ersten Generation in Pokémon GO fangen, hervorgebracht haben die bisher sechs Generationen aber über 700 Taschenmonster. Mit den Ende 2016 erscheinenden Editionen Sonne/Mond kommen nochmals neue Pokémon hinzu. Um langfristig für Fang-Motivation zu sorgen, müsste Niantic versuchen, nach und nach neue Ungeheuer auf unsere Maps zu zaubern, um den Katalog irgendwann zu komplettieren.

Mehr: Pokémon GO – So könnt ihr gezielt nach Pokémon suchen 

Kämpfe sind nicht der Hauptfokus von Pokémon GO, sondern das Erkunden und Sammeln. Doch Auseinandersetzungen sind sinnstiftend, zumindest in einer martialischen Welt, wie es die von Pokémon nun einmal ist. Wir wollen unsere Monster ja nicht nur in bunte Bälle zwängen. Sie zu trainieren, ihnen Attacken beizubringen und sie in heißblütige Duelle zu schicken, ist ein zweiter wichtiger Grundpfeiler, der zum Erfolg der Handheld-Editionen beiträgt. Mit den Arenen bietet Niantic zwar Stätten, in denen wir unseren Agonismus ausleben können, jedoch sind die Kämpfe in Pokémon GO nichts weiter als simple Angriffs-/Ausweich-Spiele, die nach dreimaligem Ausprobieren dröge werden.

Pokémon GO greift auf die Daten von Google Maps zurück.

Auch können unsere Begleiter lediglich zwei Attacken erlernen, was für mich auf Dauer zu wenig ist. Hier wünsche ich mir einfach weitere Optionen, meine gefangenen Pokémon nach eigenem Ermessen auszubilden. Eine andere Möglichkeit, die Kämpfe spannender zu gestalten, wäre eine Übertragung des Pokémon GO-Grundkonzeptes auf diese Auseinandersetzungen: Was wäre, wenn wir Trainerinnen und Trainern, die wir unterwegs treffen, zu hitzigen Duellen herausfordern könnten? Ich höre die achtjährige Linda jubeln.

Aber vielleicht braucht es die Verbesserungsvorschläge auch gar nicht. Immerhin gehört Pokemon GO als Mobile-Spiel zu einem Genre, das sich mit dem Begriff “Casual” schmückt und sich zwischen unsere herkömmliche PC- und Konsolenkost drängeln soll. Die Sorge, dass Pokémon GO wie Miitomo alsbald gänzlich in Vergessenheit gerät, wird schon allein durch den Fakt negiert, dass hier ein seit zwanzig Jahren beliebtes Franchise verwertet wird. Ob und wann dem Spielkonzept von Pokémon GO die Puste ausgeht, wird sich jedoch erst zeigen. Ebenso, was genau sich hinter den zweiwöchigen Updates verbirgt , die das Spiel um neue Features erweitern sollen.

Nach nur einer Handvoll Spielstunden bin ich aber guter Dinge, denn Pokémon GO markiert einen Meilenstein: Mit ihrem Titel ebneten die Entwickler und Entwicklerinnen von Niantic einen ganz neuen Weg für das Medium Videospiele, der in aufregende Gefilde führt, die mich erwartungsvoll in die Zukunft blicken lassen.

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