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Rotoskopische Realitäten in A Scanner Darkly

01.08.2015 - 11:27 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
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Vorhang auf für Runde 7 der großen Community-Blogaktion blog me if you can! Ich hoffe, ihr schaut heute auch aufmerksam hin, denn das Thema heißt "Watching You". Vom filmischen Umgang mit dem menschlichen Auge und dessen optischer Wahrnehmung bis hin zum Akt des Beobachtens, des Überwachens, der ultimativen Informationsaufnahme des Sehnervs!

Auch ihr, liebe Leser, könnt bei dem Projekt mitmachen und euch jederzeit dem aktuellen Monatsthema widmen. Wie das funktioniert, erfahrt ihr in den FAQ. Alle weiteren Texte zum Thema "Watching You" findet ihr am Ende dieses Blogartikels.

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Kein Medium versteht es so gut wie der Film, für uns andere Welten, andere Realitäten greifbar werden zu lassen, fremde Wahrnehmungen audiovisuell erlebbar zu machen. In 24 Bildern pro Sekunde visualisiert er Lügen und Wahrheiten, die sonst nur als abstrakte Konzepte in unseren Köpfen existieren würden.

Was aber, wenn die darzustellende filmische Wirklichkeit uns an den Rand der Vorstellungskraft treibt? Science-Fiction-Autor Philip K. Dick schrieb zahlreiche Romane, die ebenfalls tolle Verfilmungen hervorriefen, seien es Blade Runner, Minority Report oder auch Die totale Erinnerung - Total Recall. Die Adaption von A Scanner Darkly - Der dunkle Schirm sah Regisseur Richard Linklater jedoch nur in einem ganz bestimmten Konzept funktionieren: Rotoskopie.

Beim Rotoskopieverfahren werden Filmaufnahmen von einem Animator Frame für Frame sozusagen "abgepaust". Damals projizierte man noch auf Glasscheiben, heute geschieht alles am Computer. Linklater setzte bei A Scanner Darkly und auch schon fünf Jahre zuvor bei Waking Life auf eine halbautomatische vektorisierte  Rotoskopie.

In Waking Life entschied er sich für eine rohe, stilistisch bewusst schwankende, wabernde Rotoskopie, um gemäß dem filmischen Inhalt die dissoziative Kraft von Träumen visuell zu verdeutlichen. A Scanner Darkly hingegen verwendet einen einheitlichen, doch sehr speziellen Stil, der es dem Zuschauer erlaubt, eine bestimmte Perspektive einzunehmen.

Keanu Reeves ist Fred/Arctor

Der Film handelt - wie so oft in Dicks Szenarien - von einer düsteren und gar nicht einmal so unvorstellbaren Zukunft. Hier hat die amerikanische Gesellschaft den Krieg gegen die Drogen verloren und wurde zum ultimativen Überwachungsstaat. Dem massiven Drogenkonsum lässt sich kaum noch entgegenwirken, doch hier tritt Undercoverermittler Fred (Keanu Reeves) auf den Plan, der als Robert Arctor verdeckt im Drogenmilieu agieren soll, um den Hersteller der beliebten Droge Substance D ausfindig zu machen. Während seiner Ermittlungen verfällt er jedoch selbst dem realitäts- und selbstwahrnehmungsverändernden Mittel...

Warum würde man einen solchen Film nun rotoskopisch bearbeiten? Das erste Stichwort dazu ist die weiter oben angedeutete Perspektive. Linklater wollte nicht einfach nur die objektive Wirklichkeit von einem Haufen Junkies abbilden, die sich in einem Haus ihr Zeug reinziehen und über allerlei Verschwörungstheorien diskutieren, sondern die Welt durch die Augen seines Protagonisten sehen. Der Zuschauer bekommt keinen neutralen Blick auf die Figuren, er bekommt Arctors Version davon. Dieses Unterfangen passt wie perfekt in die manipulativen Möglichkeiten der rotoskopischen Animation, die der Realität mit kleinen, aber feinen Details einen sehr subjektiven Anstrich verpassen kann. Dazu gehört natürlich auch zwangsläufig die sich verändernde Wahrnehmung, immer dann wenn Arctor unter dem Einfluss von Drogen steht. Mit irritierender Beiläufigkeit scheinen Farben und Formen nicht in ihren Definitionen gefangen zu sein, sondern folgen munter den Richtungswechseln des surrealen Rausches, wenn Umgebungen und Menschen augenscheinlich den Gesetzen der Physik zu widersprechen scheinen. Gerade die rotoskopierten Bilder lassen diese Übergänge fließend, ja geradezu natürlich in ihrer Widernatürlichkeit erscheinen.

Robert Downey Jr. als Kakerlake?

Ein zweiter Grund für die Entscheidung, Rotoskopie einzusetzen, hängt mit der Zukunftsvision von Dick zusammen, genauer mit ihren technischen Möglichkeiten. Wann immer Fred aka Arctor bei Pressekonferenzen Rückmeldungen zu den Ermittlungen gibt und Plattitüden und leere Versprechen zum Kampf gegen die Drogen von sich gibt, trägt er einen sogenannten Scramble Suit (dt. Version: Jedermann-Anzug), der seine Identität schützen soll. Dies ist eine dünne Membran, in die er schlüpft und die ununterbrochen Körperteile und Gesichter von verschiedenen Personen simuliert, damit man sich von Fred oder einem holografischen Alter Ego kein klares Bild machen kann. Diese Idee fügt sich wunderbar in Linklaters Rotoskopie-Konzept von sich verschiebenden Wahrnehmungen ein und wäre ohnehin in einem Realfilm ohne CGI nicht umsetzbar gewesen. Dort hätte der Scramble Suit dann vielleicht sogar wie ein Fremdkörper gewirkt, hier jedoch fügt er sich absolut passend in die Welt von A Scanner Darkly ein.

Der Scramble Suit in Aktion.

In einer weiteren, von außen betrachteten Ebene fungiert die Rotoskopie im Film durchaus ähnlich wie eine Art Scramble Suit vor den Augen des Zuschauers. In A Scanner Darkly geht es um die Wahrnehmung der Realität, den alten Fakt-Fiktion-Konflikt, aber eben auch speziell um Identitäten. Ist Fred noch Fred oder schon längst Arctor, die Person, die er eigentlich verdeckt überwachen sollte? Hat Substance D ihren persönlichkeitsspaltenden Effekt bereits in sein Hirn eingepflanzt? Ist Barris (Robert Downey Jr.), wer er vorgibt zu sein? Und wer steckt hinter dem Scramble Suit seines Vorgesetzten Hank? Alles und jeder trägt Masken oder verliert sein Selbst im Schlund der Drogen. Was wäre also besser geeignet, diese Identitäts-Dissonanz spürbar zu machen, als ein Verfahren, das uns Keanu Reeves, Robert Downey Jr., Winona Ryder und Woody Harrelson zeigt, aber eben auch nicht wirklich, sondern deren animierte Gesichter? Annäherungen, Entsprechungen, aber nicht die ganze Wahrheit. Kreaturen mit den Masken bekannter Darsteller, aber irgendwie doch etwas anderes...

Nicht neben die Spur geraten, Winona!

Watching You heißt das Thema des Monats und A Scanner Darkly spielt damit auf ganz verschiedene Weisen. Der Staat überwacht die Bürger, Fred beobachtet Junkies, Arctor verfällt dem visuellen Rausch von Substance D. Fragen nach Realität und Identität, nach Schein und Sein werden zu Fragen der Wahrnehmung, die sich voll und ganz der Rotoskopie unterordnet. Wem und was kann man in diesem Film eigentlich trauen, wenn nicht einmal unseren eigenen Augen?

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