Tag 7 - Sicario schickt Emily Blunt in den Drogenkrieg

20.05.2015 - 08:50 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
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Prisoners-Regisseur Denis Villeneuve widmet sich in Sicario mit Emily Blunt dem Drogenkrieg. Jia Zhangke dreht nach A Touch of Sin einen Film über Chinas Zukunft - in Australien. Der 7. Tag in Cannes ist vorüber.

Zwischen 1993 und 1994 war das Go West-Cover von den Pet Shop Boys mein absolutes Lieblingslied. Das ließe sich jetzt wunderbar zeitgeschichtlich kontextualisieren. Wenige Jahre vorher war die Mauer gefallen und für die Endachtziger-Jahrgänge aus dahinsiechenden ostdeutschen Großstädten sollte Go West tatsächlich Begleitsong des Lebenslaufes werden. In jenen Jahren interessierte mich das aber keine Spur. Die Einkaufsstraßen meiner Heimatstadt waren noch nicht verwaist. Die Pet Shop Boys boten im Fernsehen knackige junge Herren in engen T-Shirts und traten selber als gelb-blaue Surf-Aliens mit Müsli-Schüsseln auf dem Kopf auf. Wie konnte ich Lied und Video nicht lieben? Wann Jia Zhangke zum ersten Mal Go West gehört hat, ist leider nicht bekannt. Seinem neuen Film Mountains May Depart habe ich die plötzliche Erinnerung an die hitzige Pet Shop Boys-Liebe zu verdanken. Jia führte den 7. Festivaltag von Cannes zu Ende, der mit Sicario von Denis Villeneuve begonnen hatte.

Sicario bringt den "Krieg" zurück in den Drogenkrieg. Taylor Sheridan, Darsteller aus Sons of Anarchy, hat das Drehbuch zu dem Thriller geschrieben, in dem Emily Blunt als FBI-Agentin Kate von einem Agenten (Josh Brolin) eingepannt wird, um den Boss eines Kartells zu Fall zu bringen. Als Kate mit den Kollegen ins mexikanische Juarez fährt, um einen Zeugen abzuholen, wird der Kurztrip über die Grenze zum fingernagelstrapazierenden Einsatz im inoffiziellen Kriegsgebiet. Der Konvoi aus schwarzen SUVs windet sich durch die Straßen, vorbei an von Brücken hängenden, nackten Leichen, die von den Drogenhändlern als Abschreckung angebracht wurden. Zurück geht es für die bis an die Zähne bewaffneten Agenten zur Schlange an der Grenze, wo in jedem PKW ein Killerkommando warten könnte. Als der Mexikaner Alejandro (Benicio del Toro) später mit einem Wasserkannister ins Verhörzimmer geht, lässt sich der mexikanisch-amerikanische Krieg gegen die Drogen schwerlich von dem gegen den Terror unterscheiden. Die Chancen auf einen dauerhaften Sieg stehen im Kampf gegen die Kartelle ähnlich schlecht, also tun Matt (Brolin) und Alejandro alles, um an ihr Ziel zu kommen. Dazu gehört auch das Engagement Kates, die zunehmend an den Methoden ihrer Vorgesetzten zweifelt.

Kameramaestro Roger Deakins war bereits bei Prisoners das Hauptargument für den Ticketkauf und in Sicario enttäuscht er nicht. Villeneuves Stärke bleiben hypnotische Spannungsmomente und für diese finden Deakins und er überwältigende Bilder. Eine Sequenz, in der eine Spezialeinheit mit Nachtsichtgeräten einen Drogentunnel überwacht und betritt, könnte dank ihrer verstörend abstrakten Schönheit zu den besten des Jahres gezählt werden, ob in Thrillern oder Dramen. Doch Villeneuve ist eben nur ein halber oder ein Viertel Michael Mann, ein "Mann", bei dem selbstverliebte Platitüden profunde Erkenntnisse über die Natur dieses Krieges vorspielen. Im Gegensatz zu den Filmen von Michael Mann und anderen entwickelt Sheridans Drehbuch nämlich das überdrehte Tough Guy-Gelaber von Matt und Alejandro nicht aus dem Genre heraus, sondern als Teil einer zynischen Message, die das Paket Sicario zuzuschnüren hat. Auf der Strecke bleibt Emily Blunt. Nach Edge of Tomorrow spielt Blunt wieder in einem größeren Genre-Film, der ihr gehören sollte. Und wieder wird er ihr aus den Händen gerissen, damit die Männer etwas zu tun bekommen. Kein kritisches Urteil über Sicario fällt im Übrigen vernichtender aus als das Gelächter im Saal bei den ironisch kommentierten Folterszenen.

Jia Zhangkes A Touch of Sin-Nachfolger Mountains May Depart läuft ebenfalls im Wettbewerb, hat aber mehr mit dem Un Certain Regard-Beitrag Cemetery of Splendour von Apichatpong Weerasethakul gemeinsam. Im Interview am 7. Festivaltag in Cannes sprach Weerasethal unter anderem über die Situation in seinem Heimatland Thailand, das seit einem Jahr von einer Militär-Junta regiert wird und wirkte in diesen Minuten ebenso müde und deprimiert wie sein neuer Film es bisweilen tut. Wenig optimistisch hinsichtlich der Zukunft seines Landes gestimmt, merkte der Gewinner der Goldenen Palme 2010 an, Cemetery of Splendour werde "hoffentlich" sein letzter Film in Thailand sein. Deswegen habe er ihn in seiner Heimatstadt Khon Kaen gedreht, als Abschied. Betrüblich klingt das bei einem Regisseur wie Weerasethakul, dessen Werk so stark in Geschichte und Glaube eines Landes verwurzelt ist.

Jia Zhangkes Filme scheinen ebenso eng im "neuen China" verhaftet zu sein, dem China nach der wirtschaftlichen Öffnung unter Deng Xiaoping. Nach A Touch of Sin ist Mountains May Depart ein weiterer Schritt hin zu einem fundamentalen Richtungswechsel für Jia, der im letzten Drittel sogar außer Landes führt. Zwischen 1999 und 2025 angesiedelt, beginnt "Mountains" als Liebesmelodram über eine Frau zwischen zwei Männern, der eine ein Boss, der andere ein Arbeiter. Go West und ein kantonesischer Schlager von Sally Yeh geben die Stimmung dieses Segments vor, in dem Jias Muse und Ehefrau Zhao Tao in einem kunterbunten Wollpulli unter einem knallroten Mantel durch die für den Regisseur typische industriell ausgeschlachtete Natur wandelt. Was zum Douglas Sirk-Genuss noch fehlt: ein Reh im Schnee und Rock Hudson.

Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen; aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen. (Jesaja 54:10)

Im zweiten und dritten Drittel verfolgen wir die Nachwehen der Dreiecksgeschichte in den Jahren 2014 und 2025. Mountains May Depart bestätigt wieder einmal, dass englische Muttersprachler in chinesischen Filmen zu den schlimmsten Schauspielern auf diesem Erdenrund gehören. Nichtsdestotrotz kann Jias neues, nur an der Oberfläche konventionelles Werk nicht umhin, zu fesseln. Das liegt an der großartigen Zhao Tao, die den bitteren Ton des Films auf einer persönlichen Ebene transportiert. Ihre Figur bleibt zurück im Hinterland der Volksrepublik, das von den Launen des Kohlepreises abhängig ist. Der letzte Akt leidet unter der langen Abwesenheit Zhao Taos und so wird ihre Bedeutung für Jias pessimistische China-Vision offenbar. Veränderung spürt er zwischen den Kohleminen und Villen nicht auf. Tankstellen oder Häuser wirken vielleicht größer und luxuriöser, aber die Kamera von Nelson Yu Lik-wai kehrt stets zur selben Stadtansicht zurück. Kleine Arbeiterhäuser oder Hutongs innerhalb einer Stadtmauer sammeln sich um einer über allem ragenden Pagode. Und irgendwo tanzt immer noch jemand erwartungsvoll zu den Pet Shop Boys.

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