Test zu The Order: 1886 – Wolf im Wolfspelz

19.02.2015 - 14:01 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
The Order: 1886
Sony
The Order: 1886
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Zu kurz, zu viele Cutscenes, zu wenig Spiel. Die Liste der Vorwüfe, die The Order 1886 schon vor dem Launch ertragen muss, ist lang. In meinem Review überprüfe ich, ob die Kritik überhaupt berechtigt ist.

Obwohl ich noch sehr jung bin, habe ich das Gefühl, langsam alt zu werden. Viele Spiele rühre ich nur noch für höchstens eine halbe Stunde an, weil ich einfach keine Motivation habe, vier Sammelquests hintereinander zu erledigen und in Feinarbeit Waffen zu craften. Stattdessen suche ich nach möglichst linearer Action, die einen Abend lang unterhält und mich mit aus meiner Sicht nervigem Schnickschnack verschont. The Order: 1886  erfüllt diesen Wunsch so gut, dass ich es glatt ein zweites Mal spielen will.


Das liegt in erster Linie an der grafischen Präsentation, die nicht weniger als atemberaubend ist. Ich kann mich an keinen Titel erinnern, der Charaktere ähnlich detailreich und Umgebungen annähernd so realistisch dargestellt hat. Entwickler Ready at Dawn holt alles aus der PS4 heraus und zeigt, welchen Grad an optischer Qualität Videospiele heutzutage erreichen können. Nicht nur Texturen sind gestochen scharf, vor allem die Animationen der Figuren sind so gut umgesetzt, dass ich mehrmals mit offenem Mund auf der Couch saß. The Order erinnert unter diesem Aspekt betrachtet nicht nur an das sehr hübsche Ryse: Son of Rome , es übertrifft Cryteks Römer-Geschnetztel sogar noch. Das einzige Manko sind einige übertriebene Unschärfen, die es mir manchmal schwer machen, Gegner in der Ferne richtig zu erkennen.

Diese beeindruckende Grafik ist zudem eines der Standbeine für die dichte Atmosphäre, mit der der Third Person-Shooter von Ready at Dawn aufwartet. Die Handlung von The Order: 1886 spielt in einem alternativen viktorianischen London, das mitten in der industriellen Revolution steckt. Gleich die erste halbe Stunde des Spiels zeigt mir das auch sehr deutlich: Über der Stadt liegt ein dunkler Schleier, am Himmel schweben Luftschiffe. In diesem Szenario schlüpfte ich in die Rolle von Sir Galahad, einem Mitglied des namensgebenden Ordens, der auf die Tafelrunde rund um Artus zurückgeht. Diese Vereinigung hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Menschheit vor einer Mischung aus Mensch und Tier, den sogenannten Half-Breeds, zu beschützen. Als wären die noch nicht bedrohlich genug, gesellt sich auch noch eine Rebellion hinzu; ein Bürgerkrieg scheint unausweichlich.

So präsentiert The Order: 1886 im Prinzip zwei Handlungen gleichzeitig, trotzdem gelingt es dem Spiel, die Spannung ohne Pause aufrecht zu erhalten. Das liegt nicht nur an dem interessanten Szenario an sich, sondern vor allem daran, dass Ready at Dawn es schafft, interessante Charaktere zu schaffen, die mir in relativ kurzer Zeit tatsächlich ans Herz wachsen. Während mir der Protagonist in anderen AAA-Titeln wie beispielsweise Far Cry 4  ehrlich gesagt egal ist, liegt mir am Schicksal von Galahad wirklich etwas, was mich nur noch mehr motiviert, weiterzuspielen. Hinzu kommen – ich versuche, so wenig wie möglich zu verraten – wirklich gute Wendungen. Das Storytelling von The Order: 1886 wartet mit perfekter Dynamik auf und wird durch einige historische Charaktere wie Nikola Tesla, der den Orden mit für damalige Verhältnisse futuristischer Technologie ausrüstet, aufgepeppt.

Unter den Werkzeugen, die mir der eifrige Wissenschaftler spendiert, befinden sich vor allem Waffen, von denen ich in The Order genretypisch jede Menge Gebrauch mache. Das Arsenal ist dabei nicht außergewöhnlich umfangreich, dafür jedoch sehr abwechslungsreich. Galahad kann stets eine Handfeuer- und eine Primärwaffe tragen, außerdem verfügt er über Rauch- und Sprenggranaten. Die verschiedenen Schießeisen fühlen sich allesamt sehr unterschiedlich und realistisch an, jede Waffe hat ihre Daseinsberechtigung. Dabei ist lediglich schade, dass mir das Spiel teilweise vorschreibt, wann ich welche Waffe zu benutzen habe. So komme ich nur in sehr wenigen Passagen in den Genuss eines Elektrizitäts-Gewehrs, das Gegner auf der Stelle brutzelt, sofern vernünftig gezielt wurde. Das ist allerdings meistens kein Problem, denn die Steuerung von The Order: 1886 funktioniert reibungslos. Negativ ist mir nur das Deckungssystem aufgefallen, das teils etwas hakelig ist. Galahad wollte manchmal einfach nicht um die Ecke gucken oder ist anstatt zu springen lieber zur nächsten Barrikade gehechtet.

Dabei ist das Aufsuchen von Schutz in The Order sehr wichtig, denn der Schwerigkeitsgrad ist von Ready at Dawn vernünftig gebalanced geworden. Bei meinem Durchlauf auf der mittleren Stufe habe ich einige Male ins Gras gebissen, was vor allem an den Spezialgegnern liegt, die nicht nur besonders zäh sind, sondern dazu auch noch über besonders bösartige Waffen verfügen. Das Thermit-Gewehr schießt beispielsweise eine Wolke entflammbarer Gase in meine Nähe, die dann entzündet wird, der Granatwerfer macht genau das, was sein Name vermuten lässt. Sobald ein Geschoss in meiner Nähe liegt, wird mir das vom Spiel allerdings angezeigt: Per Knopfdruck suche ich automatisch eine Deckung, hinter der ich sicherer bin.

Solche Quicktime-Events, also das Betätigen eines bestimmten Knopfes in einem begrenzten Zeitfenster, gibt es in The Order: 1886 jede Menge. Gerade in Bosskämpfen musste ich schnelle Reflexe beweisen, damit ich nicht das Zeitliche segne. Sollte das doch einmal vorkommen sein, hat mich das Spiel stets mit überaus fairen Speicherpunkten überrascht, die nie weiter als fünf Minuten auseinander liegen. Teilweise speichert The Order sogar in bestimmten Phasen eines Kampfes, was das Frustpotenzial so gering wie möglich hält. Das Checkpoint-System ist also im Prinzip das genaue Gegenteil von Alien: Isolation , das meine Nerven schlicht irgendwann überstrapazierte.

Fazit

Ready at Dawn hat es geschafft, all meine derzeitigen Wünsche, die ich an ein Spiel stelle, zu erfüllen. The Order: 1886 distanziert sich von Rollenspielelementen, Crafting und unzähligen Sammelquests und richtet sich klar an ein ganz bestimmtes Publikum. Der Titel bietet knappe sechs Stunden kompromisslose Unterhaltung, die auf eine Art und Weise präsentiert wird, wie ich sie bislang noch nicht erlebt habe. Neben atemberaubender Grafik und glaubwürdiger Atmosphäre bietet der Third Person-Shooter eine motivierende Geschichte, die mich – gepaart mit gut geschriebenen Charakteren – den Controller nicht aus der Hand legen lässt.

Für alle jene, die damit leben können, dass hier nicht das Gameplay, sondern das Gesamtwerk und die Präsentation im Vordergrund liegen, ist The Order unumgänglich, wer mit einem cineastischen Stil nichts anzufangen weiß, sollte einen großen Bogen machen. Unabhängig von der Zielgruppe bleibt zu sagen, dass das Spiel aufzeigt, welche Facetten das Medium Videospiel mittlerweile abdecken kann. Damit ist The Order: 1886 jetzt schon ein Vorzeigetitel der PS4 und ein Paradebeispiel dafür, dass auch AAA-Spiele nicht jedem Trend blind folgen müssen.

The Order: 1886 wurde uns in Form eines Review-Musters von Sony zur Verfügung gestellt. Aufgrund aktueller Diskussionen möchten wir darauf hinweisen, dass wir den Preis des Spiels  nicht in das Review haben einfließen lassen.

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