That Dragon, Cancer entblößt die hässliche Fratze der Spielkultur

12.01.2016 - 16:20 Uhr
That Cancer, Dragon
Ryan Green
That Cancer, Dragon
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Im Alter von 12 Monaten erhält Joel Green eine tragische Diagnose: Krebs. Sein Vater Ryan Green begleitete den Lebensweg seines Sohnes und verarbeitete seine Gefühle in einem Spiel. That Dragon, Cancer erschien heute und sorgte für heftige Reaktionen.

That Dragon, Cancer ist in vielerlei Hinsicht ein sehr mutiges Spiel: Es braucht Mut, um drei Jahre seines Lebens und die Ersparnisse einer Familie in die Erschaffung einer virtuellen Erinnerung zu stecken, in die Ängste, Wünsche, Konflikte und auch schönen Momente der Familie Green aufgefangen werden. Es braucht Mut, sein Herz so weit zu öffnen und den Schmerz in spielbaren Code umzuformulieren, der vom kurzen Leben des krebskranken Joel Green erzählt. Aber fast noch mehr Mut braucht es, mit einem so unkonventionellen Spiel schließlich an die Öffentlichkeit zu treten.

Ryan Green war so mutig und muss nun die heftigen Reaktionen ertragen: Viele Spieler reagieren empathisch, fühlen sich bewegt oder kritisieren produktiv und nachvollziehbar. Aber der Release von That Cancer, Dragon demaskiert gleichzeitig einen Teil der Spielkultur, den wir oft allzu häufig vergessen und enthüllt eine vor Wut zerrissene Fratze.

Ein häufiger Kritikpunkt wirft Profitgier vor.

Profitgier ist ein Schlagwort, das That Dragon, Cancer häufig in Forenthreads vorgeworfen wird. Regelmäßig durch einen Hinweis auf die ethnische Herkunft des Entwicklers mit rassistischen Implikationen hohl untermauert, sind sich die zahlreichen Kritiker hier im Kern einig: Mit einer privaten Tragödie soll man kein Geld verdienen dürfen — das sei unmoralisch. Deutlich schwingt hier das Verständnis von Videospielen als Ergebnis einer Dienstleistung mit. Der Entwickler ist der Handwerker, das Spiel sein Produkt. Spuren echter Emotionalität werden als manipulativ entlarvt.

So funktioniert das alles nur leider nicht.

That Dragon, Cancer ist ein virtuelles, begehbares Tagebuch . Das Spiel entstand über drei Jahre hinweg und diente erst Ryan Green als Rückzugsort und gleichzeitig Auffangbecken für seine Gefühlswelt, bis es durch Joels Tod schließlich zu einem Ort der Erinnerung für die junge Familie wurde. Sein Spiel bietet uns das seltene Privileg, am Trauerprozess einer uns fremden Familie teilzunehmen und Joel kennenzulernen, wie ihn seine Eltern in Erinnerung behalten haben. Die Einblicke sind dabei häufig so intim und sensibel vorgetragen, dass wir uns unweigerlich fehl am Platz fühlen. Am liebsten würden wir dann leise rückwärtsgehend den virtuellen Raum verlassen und die Tür zu Familie Green hinter uns schließen wollen.

Jegliche Verbindung zu dem Spiel zu leugnen, nimmt That Dragon, Cancer seine Existenzberechtigung, überhaupt den Grund für die Entwicklung des Spiels selbst. Ryan Green hat Kunst geschaffen, seinen Gefühlen Ausdruck verliehen — und nicht etwa einen Spiegel gebaut, über den wir uns nun beschweren sollten, weil wir noch die Fingerabdrücke des Machers auf der Glasoberfläche erkennen.

Unverständnis, weil die traditionellen Spielfeatures nicht vorhanden sind.

Was sich nun in diesen Stunden in den Foren abspielt, ist ein mittlerweile bekanntes Phänomen der Spielkultur: Ein Teil der weltweiten Community empfindet Videospiele noch immer ausschließlich als Eingangspforte zu einer virtuellen Welt. Eskapismus ist die wichtigste Konstante in den Spielebibliotheken, deren Besitzer als Geralt von Riva auf Abenteuerfahrt gehen oder in Black Ops 3 den ersten Platz der Ranglisten erklimmen wollen. Gegen dieses Spielverständnis ist absolut nichts einzuwenden — problematisch ist allerdings der gelebte Extremismus, der aggressiv jede andere Herangehensweise an ein Spiel angreift, die die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verwischen will. "Ich mag das nicht, also hat das bei uns nichts zu suchen!" steht dann zwischen den Zeilen der schnell verfassten Rezensionen.

Auch auf 4Chan sind viele über die bloße Idee des Spieles verärgert.

Nach der Veröffentlichung seines Spiels und dem Leidensweg, den er und seine Familie die letzten drei Jahre Schritt um Schritt gegangen ist, sitzt Ryan Green nun vor seinem PC und liest sich jeden Kommentar, jede Kritik und jede Refund-Begründung durch. Immer wieder antwortet er selbst auf die irritierten Nachfragen der Spieler, meist in kurzen, neutralen Sätzen. Und abermals bin ich wie in seinem Spiel zum Zusehen verdammt, meine Einwände in den Foren stehen gegen eine laute Übermacht.

Es braucht Mut ein solches Spiel zu machen. Aber hat sich der Aufwand, die emotionale Investition, angesichts dieser Reaktionen wirklich gelohnt? Ryan Green beantwortet diese Frage in That Dragon, Cancer selbst: Das Leben eines einzelnen Menschen hat nur dann einen Sinn, wenn sich jemand auch daran erinnert. Sein Spiel ist eine solche Erinnerung, die seinen Sohn Joel Green auf gewisse Weise am Leben erhält. Nach Release des Spiels haben nun wir Spieler die Möglichkeit, That Dragon, Cancer nicht nur als Gedenkstein in Erinnerung zu bewahren, sondern laut und deutlich daran zu erinnern, dass Spiele mehr sein können und vor allem mehr sein dürfen als schablonenhafte Ausflüge in Fantasiewelten voller Monster, Giganten, Dreitagebärte und Schrotflinten. Vielleicht ist diese Herausforderung der Drache, den jetzt wir besiegen müssen.

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