Ein junges Mädchen wird als Babysitter engagiert. Die Eltern gehen aus, das Mädchen bringt die Kinder ins Bett und tratscht mit ihrer besten Freundin am Telefon oder lackiert sich die Nägel. Plötzlich klingelt das Telefon. Sie hebt ab und hört nur lautes Atmen. Sie legt auf. Zehn Minuten später klingelt es wieder, dieses Mal sagt eine gruselige Stimme: „Ich werde dich töten“. Voller Angst legt sie auf und prüft, ob alle Fenster und Türen verschlossen sind. Da klingelt das Telefon schon wieder. „Ich werde dich aufschlitzen“, sagt die Stimme. Das Mädchen ruft die Polizei an. Dort sagt man ihr, sie solle beim nächsten Anruf dran bleiben, damit sie die Nummer zurückverfolgen können. Kurz darauf klingelt das Telefon tatsächlich wieder. „Wann hast du das letzte Mal nach den Kindern gesehen?“, fragt die grausame Stimme und das Mädchen – obwohl kurz davor aufzulegen, bleibt noch etwas länger dran. Als sie es nicht mehr aushält, legt sie auf. Es klingelt wieder, doch dieses Mal ist die Polizei dran. „Nehmen Sie die Kinder und laufen sie so schnell wie möglich nach draußen. Die Anrufe kommen aus dem Haus!“
Fast jeder von euch kennt mindestens eine
dieser unglaublichen Geschichten, die aber auch erschreckend realistisch
wirken, weil sie immer Verwandten oder Bekannten eines Freundes passiert sind. Daher
nennt man sie auch "FOAF tales" (Friend of a friend tales). Sie alle
haben eine behauptete Nähe gemeinsam, die eine große Glaubwürdigkeit vermitteln
soll und zudem eine große Anziehungskraft besitzt. Meistens sind die
Geschichten so skurril oder gruselig, das man sie selbst dann auch weiter
erzählt und voran schiebt: "Also, dass ist einer Bekannten von einer
Freundin meiner Schwester passiert." Oder so ähnlich. Ob man die
Geschichte weiter erzählt, weil man sie wirklich für wahr hält? Oder geschieht
das eher aus reiner Sensationslust? Das Prinzip funktioniert jedenfalls fast
wie stille Post. Bei jedem weitererzählen wird die Geschichte leicht
abgeändert, ausgeschmückt, dramatisiert.
Ein
Autofahrer liest auf der einsamen Landstraße einen jungen Anhalter auf. Während
der Fahrt verschwindet dieser aber ganz plötzlich vom Beifahrersitz, und zwar
ohne dass das Auto angehalten hätte. Der Fahrer fährt zur Adresse, die der
Anhalter ihm genannt hatte. Dort trifft er eine alte Frau an die erzählt, ihr
Sohn sei vor einigen Jahren bei einem Unfall getötet worden - genau an der
Stelle, wo der Anhalter eingestiegen ist. Seit
Jahrhunderten wird diese Geschichte weitererzählt - nur, dass sich das Auto erst
mit der Zeit aus einer Pferdekutsche entwickelt hat.
Auffällig ist auch, dass jede Gegend ihre eigenen Legenden hat. Mir
fällt da spontan der „ewige Student“ ein, der als Geist in den Gebäuden der Geisteswissenschaften der Ruhr-Universität Bochum
spukt. „Sein Name: Hajo. Seine Charakteristika: lange Haare, ungepflegte
Kleidung, eine Nickelbrille sowie ein muffiger Geruch. Seine Legende: Seit
Mitte der Sechziger studiert Hajo an der Hochschule und ist dazu verdammt, ewig
an seiner Doktorarbeit zu schreiben, vom Ehrgeiz zerfressen, eine perfekte
Dissertation abzuliefern. Ständig neue Publikationen halten ihn aber von diesem
Vorhaben ab. Wo und wann man Hajo begegnen kann: In den frühen Morgenstunden,
kurz bevor die Studentenflut einsetzt, schleicht er durch die Flure und
Treppenhäuser der Gebäude GA, GB und GC.“ (zitiert nach: http://www.derwesten.de/region/von-der-sage-zur-urbanen-legende-page2-id10274708.html) Ich hab mir fest vorgenommen, mich in nächster Zeit mal ausgiebig mit Sagen und modernen Mythen aus meiner Heimat zu beschäftigen...
Einige funktionieren aber anscheinend auch international, so kennt zum Beispiel fast jeder die Legenden der „Bloody Mary“ oder „Der Anrufer“. Einige der Erzählungen werden auch so populär, dass sie Gegenstand von Videospielen oder Kinofilmen werden, zum Beispiel „Der Slenderman“, „Der unbekannte Anrufer“, „The Town that dreaded sundown” oder die teuflische Puppe „Annabell“.
Mir fallen spontan zwei dieser modernen Mythen ein, die in meinem Freundeskreis kursierten. Beide sind wie immer Freunden von Freunden passiert. Interessant ist, dass es mindestens fünf Jahre her ist, dass mir jemand diese Geschichten erzählt hat. Trotzdem meine ich mich im Detail an sie zu erinnern - oder schmücke ich sie mit jedem Weitererzählen aus, ohne es selbst zu merken? Jedenfalls will ich euch diese urbanen Legenden nicht vorenthalten.
Die alte Frau in der Tiefgarage
Die Bekannte meiner Freundin war mit anderen Freunden im Kino. In der Spätvorstellung. Nach dem Film geht sie alleine zu ihrem Wagen, den sie in der Tiefgarage geparkt hat, die anderen haben sich schon auf den Weg nach Hause gemacht. Das Mädchen steigt ein, startet den Wagen und will los fahren, da bemerkt sie eine alte Frau, die gedankenverloren hinter ihrem Wagen steht und in ihrer Lederhandtasche kramt. Das Mädchen im Auto wartet kurz ab, aber die alte Dame geht nicht aus dem Weg. Sie steigt aus und fragt, ob sie helfen kann, denn die alte Dame ist ganz alleine und wirkt verwirrt. Nach kurzem Gespräch bietet das Mädchen der Frau an, sie nach hause zu fahren, denn die Frau erzählt ihr, dass sie ihre Geldbörse samt Busgeld nicht findet, bzw. dass die bestohlen wurde. Dankbar nimmt die alte Frau auf dem Beifahrersitz platz, draußen ist es kalt, das Mädchen schaltet die Heizung im Wagen an. Die alte Dame zieht ihre Handschuhe aus und pustet in die Hände um sie aufzuwärmen. SCHOCK. Das Mädchen schaut auf die Hände, die ganz eindeutig grobe, beharrte Männerhände sind. Sie erstarrt, versucht aber sich den Schock nicht anmerken zu lassen. Um aus der Situation raus zu kommen, bittet sie die alte Frau auszusteigen - sie hat das Gefühl als wäre auf ihrer Seite beim Anfahren etwas unter den Reifen gekommen. In dem Moment als die alte "Frau" mühsam aus dem Wagen klettert, schlägt das Mädchen die Tür zu und fährt rasend davon. Zuhause angekommen bemerkt sie, dass die Handtasche der merkwürdigen "Frau" noch auf dem Boden steht. Sie schaut hinein. SCHOCK. Darin befinden sich nicht nur Geldscheine (also Geld für Bus oder Taxi) sondern ein riesiges Küchenmesser und Handschellen. Kopfkino: Oh mein Gott, die alte Frau war in Wirklichkeit ein verwachsener Mann, der mit einem Trick ins Auto kommen wollte, um das Mädchen zu töten.
Der ungebetene Gast auf dem Rücksitz / Die falsch verstandene Warnung
Eine junge Frau fährt an einem verregneten
Abend allein im Auto nachhause. Sie wohnt etwas abgelegen in einem Waldgebiet. Die
letzten Tage war es sehr stürmisch draußen, viele Äste sind durch den Wind
abgebrochen. Mitten auf der Strecke liegt ein Baumstamm auf dem Weg, die Frau
muss aussteigen und ihn zur Seite hieven. Gesagt getan, sie steigt wieder ein
und fährt weiter. Sie kann kaum etwas sehen, weil es so stark regnet. Im
Rückspiegel sind kommen die Scheinwerfer eines Autos immer näher. Der Fahrer
hupt mehrmals. Immer wieder. Die Frau bekommt Angst. Was will der
Verrückte hinter ihr bloß? Sie versucht sich zu beruhigen, sie ist ohnehin so
gut wie zuhause und freut sich auf ein Glas Wein und eine heiße Dusche. Sie
fährt den Wagen in die Garage, steigt aus und betritt durch die Verbindungstür
das Haus. Sie zieht ihre durchnässte Jacke aus und sieht aus dem Küchenfenster,
das sie ihren Verfolger nicht los geworden ist. Der Wagen, der ihr gefolgt ist,
steht direkt vorm Haus. SCHOCK. Es klingelt. Mehrmals.Verängstigt geht die Frau zur
Gegensprechanlage. "Was wollen Sie von mir? Gehen sie weg, ich rufe die
Polizei!" Der vermeintliche Verfolger schreit ihr entgegen: "Da ist
ein maskierter Mann in ihr Auto gestiegen, als sie den Ast vom Weg geholt haben!" Kopfkino:
Krasser Scheiß, der Typ war mit im Wagen und ist jetzt wahrscheinlich auch im
Haus.
Wenn ich mir die Geschichten so geschrieben durchlese, erscheinen sie mir eigentlich nicht besonders realistisch oder auch nur ansatzweise glaubwürdig. Der Effekt ist schon ein Anderer, wenn sie einem von Gesicht zu Gesicht erzählt wird. Mir scheint aber auch, dass es bei urbanen Legenden nicht darum geht, ob die Geschichte wahr oder falsch ist, sondern um deren gesellschaftliche Funktion: Denn sie können neben der reinen Unterhaltung auch der Verarbeitung eigener Gefühle, wie etwa unterdrückten Ängsten, dienen. Die meisten Großstadtmythen enthalten außerdem moralische Fingerzeige, eine Warnung vor abweichendem Verhalten. So könnte man den Killer aus der Eingangsgeschichte als Warnsymbol verstehen, dass alle Babysitter daran erinnern soll, verantwortungsvoll auf die Kinder in ihrer Obhut aufzupassen.
Sie sind quasi eine Warnung vor und eine Flucht aus der Realität, die einfach immer grausamer sein wird, als alles was wir uns so vorstellen. Nach einer dieser typischen Geschichten sind wir uns sicher, selbst anders zu handeln, sollten wir in so eine Situation geraten. Denn wir haben das Ding vor dem wir uns fürchten ja benannt, wir haben es für uns entmystifiziert. Wir fühlen uns dadurch im Alltag vielleicht wirklich etwas sicherer.
Jetzt brenne ich darauf zu erfahren, was ihr über urbane Legenden wisst und denkt. Welche Geschichten kennt ihr? Habt ihr sie selbst weitererzählt und wenn ja in welchen Situationen? Kennt ihr vielleicht urbane Legenden, die eng mit der Geschichte eurer Heimat verbunden sind? Kennt ihr noch weitere Filme, die urbane Legenden verarbeiten? Ich freue mich auf eure Anmerkungen!