Videospiele, ich will euch weinen sehen!

10.02.2015 - 17:30 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
Darkest Dungeon
Red Hook Studios
Darkest Dungeon
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Videospielhelden schießen, sterben, rennen, hungern, frieren. Sie erdulden ihr Schicksal meist stumm und dürfen höchstens in der Enge von Schlauchleveln Tränen vergießen: Echte Gefühle existieren dabei nur auf unserer Seite des Monitors. Das muss sich ändern!

Mein Ritter ächzt. Der Kampf in den dunklen Hausruinen setzt Sir Reynauld zu, sein Gesundheitsbalken eilt unter den Schlägen der feindlichen Skelettkrieger dem Nullpunkt entgegen. Gleichzeitig steigt das Stress-Barometer und lässt ihn schließlich laut schreiend die Hände über seinem Kopf zusammenschlagen. Eine rote Einblendung informiert mich über seine neue Geisteskrankheit, die er von dem Überlebenskampf davonträgt: Paranoia.

Sir Reynauld leidet nun unter Paranoia — und erinnert uns nun regelmäßig daran.

Ab sofort wird mich Sir Reynauld regelmäßig die Folgen seiner Angstzustände und ihre Symptome spüren lassen — und genau das macht Darkest Dungeon  zu einem so hervorragenden Spiel: Sobald die Paranoia aus einer Kombination verschiedener Faktoren und dem Auf- und Abwärtsbewegungen irgendwelcher Balkendiagramme entstanden ist, wird sie ein lebender, aktiver Teil des Spielerlebnisses. Der Ritter beginnt während der Kämpfe ängstlich zu schreien und verunsichert seine Mitkämpfer oder rennt vor dem Gegner davon und wird damit für mich unbrauchbar. Womöglich redet er auch während der Pausen am Lagerfeuer seinen Kampfgenossen zu und steckt sie mit seiner Angst an — die Möglichkeiten sind unvorhersehbar und längst nicht mehr ein bloßer Malus auf seine Kampfwerte.

Ortswechsel: In der Welt von The Elder Scrolls V: Skyrim  verbrachte ich fast 80 Stunden mit Kämpfen, Jagen, Klettern und anderen Abenteurersachen. Während sich mein Kämpfer auf einer rein mechanischen Ebene immer weiter entwickelte, stärker und mächtiger wurde, fand der einzige emotionale Austausch zwischen ihm und mir statt, wenn er verletzt ("HUAARG!") oder außer Atem war ("Ufffgnnnn, ufffgnnnnn!"). Sonstiger Austausch fand nicht statt. Ich war der Puppenspieler einer rotbärtigen, untersetzten Wikingerfigur.

In Spielen wie Skyrim seid IHR der Held und die Spielfigur eure untertänige Vertretung im Spiel.

Je länger ich über dieses Thema nachdachte, desto mehr Beispiele fielen mir ein, die ihre Helden nur als Projektionsfläche der Geschehnisse, nicht aber als Kommentator einsetzen. Ob nun Dragon Age: Inquisition , das hochgelobte Fallout 3  oder The Witcher 2: Assassins of Kings : Die digitalen Welten werden bevölkert von Charakteren, die lediglich den virtuell verlängerten Arm des Spielers darstellen. Entscheidungen, die wir im Spieluniversum treffen, werden ungefiltert an uns weitergegeben und wir projizieren im Gegenzug unsere Reaktionen wiederum auf den gesteuerten Protagonisten: Die Videospielfigur wird zum emotionalen Repräsentanten des Spielers.

Nichts spricht gegen diese Hierarchie, doch nach so vielen Stunden mit Darkest Dungeon sehe ich mittlerweile das Potential, das in einer überarbeiteten Beziehung zwischen Spieler und Spielfigur stecken würde.

Auch beispielsweise This War of Mine  hat in jüngster Vergangenheit offenbart, wie gut eigenständige Charaktere funktionieren, die dennoch unserer Kontrolle unterstehen. Dort suchen die Individuen, die während eines nächtlichen Raubzugs einen Mord begehen mussten, das Gespräch mit ihren Freunden, sprechen euch fast direkt an und weigern sich teilweise, bestimmte Aktionen auszuführen, bevor sie nicht ein wohltuendes Gespräch geführt haben. Ein ähnliches Prinzip findet sich auch bei den Sims  wieder, deren Bedürfnisse optisch durch verschiedene Anzeigen allerdings noch deutlicher herausgehoben werden.

This War Of Mine konfrontiert euch mit emanzipierten Charaktere, die auch unbeobachtet existieren.

Aber halt: Was ist mit Charakteren wie Lara Croft, die in ihrem Reboot Tomb Raider  einen reichhaltigen Schatz an Emotionen zeigte und ihn bereitwillig mit dem Spieler teilte? Oder ein von inneren Konflikten zerrissener Max Payne? Oder auch Delsin Rowe, dessen Schicksal ihr doch so maßgeblich in Infamous: Second Son  formen könnt?

Ganz ohne Zweifel haben diese Videospiele Charaktere ins Leben gerufen, die alles andere als blass durch die Level spazieren. Doch all diesen Universen ist ein entscheidender Punkt gemein, der diese emotional aufgeladene Inszenierung des Protagonisten erst ermöglicht: Schlauchlevel-Architektur.

Unter Schlauchleveln versteht der Level-Designer einen begrenzten Raum mit unbegrenzten Möglichkeiten: Je eng gefasster der Bewegungsradius des Spielers sein wird, desto einfacher fällt es den Entwicklern, unsere eventuelle Marschroute vorherzusehen. Dann ist es möglich, an bestimmten Punkten Ereignisse zu platzieren, die in Kraft treten, sobald der Spieler diesen unsichtbaren Bereich betritt, der die Geschichte üblicherweise in Form einer Cutscene vorantreibt. Hier dürfen wir nun gezielt Emotionen des Protagonisten erleben und zwar genau in der Form, wie es die Entwickler vorgesehen haben.

Auch wenn diese Spiele emotional sehr fesselnd und mitreißend inszeniert sein können, funktionieren sie im Grunde nur wie ein Puzzle, bei dem nach und nach die Einzelteile des Gesamtbildes zusammengefügt werden, bis ihr schließlich an dem Punkt angekommen seid, an dem die Entwickler einen Schlussstrich gezogen haben. Ob ihr nun das Schicksal einer Hauptperson in den Händen haltet oder einen einzigen vorgefertigten Weg geht — das Ziel bleibt das gleiche.

Tomb Raider begleitet euch auf einer Heldenreise — die bereits Meter für Meter vorgeplant ist.

Rollenspiele befinden sich in einem Graubereich der Definitionen: Auch hier schlüpfen wir in eine fremde Haut, bestimmten über Verhalten und Reaktionen der Party-Mitglieder — allerdings beweisen diese in Dialogen dennoch ein eigenes Bewusstsein, das sich durch eure Entscheidungen beeinflussen und prägen lässt. Für sich genommen kommen vor allem diese Gespräche meinem Wunsch von einem dynamischen, flexiblen Bewusstsein sehr nahe — doch sobald sich die Spielwelt wieder öffnet und wir gezwungen werden, die verbale Schlauchlevel-Architektur der Gespräche zu verlassen, löst sich diese Illusion wieder in Luft auf und wir klappern einen Questgeber nach dem anderen ab, während Gespräche innerhalb der Gruppe nur selten die Spielweise des Spielers direkt oder indirekt thematisieren.

Die deutlich aufwändigere, aber auch lohnendere Alternative zum Schlauch ist die Erschaffung eines flexiblen Systems aus Reaktionen und Verhaltensweisen, die der Spielcharakter automatisch abruft, sobald bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind: Ein künstliches Bewusstsein, das vor allem die Weiten des Open World-Genres mit Sinn füllen könnte.

Ich wünsche mir ein The Witcher 3: Wilde Jagd , in dem Geralt nach der dritten "Geh zu Punkt X und suche Person Y"-Quest laut seinen Unmut über die immer gleichen Aufgaben murmelt und euch indirekt stattdessen einen Besuch im Wirtshaus vorschlägt.

Ich wünsche mir eine Fortsetzung zu Ryse: Son of Rome , in der mein römischer Hauptmann für einige Momente stehenbleiben und sich fassungslos umsieht, wenn er zu viele hyperbrutale Exekutionen in einem bestimmten Zeitfenster benutzt hat.

Ich wünsche mir die Macht über einen Spielcharakter, der meine Entscheidungen reflektiert, womöglich sogar von ihnen zutiefst verstört wird. Eine eigene Meinung für meinen Videospielcharakter, der etwas zu sagen hat — auch ohne die schwarzen Balken einer Zwischensequenz um ihn herum.

Ich will Videospiele weinen sehen. Ich will, dass Entwickler die Beziehung von Spiel zu Spieler in Zukunft stärker aufbrechen und ihren Protagonisten eine laute, eigene Stimme schenken.

Disclaimer: QWER ist eine Kolumne der gamespiloten. Die hier getroffenen Aussagen spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung der gesamten Redaktion wider, sondern beziehen sich auf den jeweiligen Autor selbst. Erst lesen, dann kommentieren.

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