Community

Von der Einsamkeit der Fiktion in der Realität

01.03.2016 - 23:00 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
Bild zu Von der Einsamkeit der Fiktion in der Realität
Alamode
Bild zu Von der Einsamkeit der Fiktion in der Realität
0
0
»I fear that Mr. Sherlock Holmes may become like one of those popular tenors who, having outlived their
 time, are still tempted to make repeated farewell bows to their indulgent audiences. This must cease and he must go the way of flesh, material or imaginary. One likes to think that there is some fantastic limbo for the children of imagination, some strange, impossible place where the beaux of Fielding may still make love to the belles of Richardson, where Scott’s heroes still may strut, Dickens’s delightful Cockneys still raise a laugh, and Thackeray’s worldlings continue to carry on their reprehensible careers. Perhaps in some humble corner of such a Valhalla, Sherlock and his Watson may for a time find a place, ...« Mit diesen hoffnungsfrohen, im Stillen aber doch wohl mit einem Augenzwinkern niedergeschriebenen Worten verabschiedet sich Sir Arthur Conan Doyle (1859-1930) 1927, drei Jahre vor seinem Tod, im Vorwort von »The Case-Book of Sherlock Holmes« von seiner Schöpfung, dem also fiktiven beratenden Detektiv Sherlock Holmes. Was aber, wenn das dort angesprochene ›Valhalla‹ eben nicht ein ›fantastic limbo for the children of imagination‹ wäre, sondern die Realität, die Wirklichkeit, die natürlich in diesem Fall auch nur eine fiktive Wirklichkeit abbilden würde? Eine literarische Gestalt, egal wie populär auch in dieser Realität, wäre mit Sicherheit sehr einsam. Und um diese Einsamkeit geht es in Bill Condons (*1955) filmischer Romanadaptation »Mr. Holmes«, der in England bereits im Juni 2015 anlief, hier in Deutschland allerdings leider erst jetzt in die Kinos kommt, wohl, weil es ein sogenannter Kunstfilm ist, ein filmisches Gesamtkunstwerk, das einen intellektuellen Zuschauer braucht, das einen durch literarische Studien Gestählten benötigt, um es zu verstehen, nicht nur einen eingefleischten Sherlock-Holmes-Fan.

Doch worin genau besteht nun diese Kunst? Sie besteht definitiv in dem methodischen Interpretationsansatz des Spiegels im Spiegel, was sich durch den ganzen Film zieht, wie die Aorta durch den menschlichen Körper, und das in Deutschland der Autor Michael Ende (1929-1995) in seiner surrealistischen Geschichtensammlung »Der Spiegel im Spiegel: Ein Labyrinth« (1983) zur Kunstform erhoben hat.

Doch zunächst einige kurze Worte zur literarischen Vorlage. »A Slight Trick Of The Mind« ist der sechste Roman des amerikanischen Autors Mitch Cullin. Er wurde 1968 in New Mexico geboren und hat schottische, irische und indianische Vorfahren. Seine bisher sieben Romane, diverse Kurzgeschichten und sein Versepos sind in Deutschland bisher kaum rezipiert und übersetzt worden. Bezeichnenderweise hat er keinen deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag, obwohl er in mehr als zehn Sprachen übersetzt wurde, unter anderen ins Französische, Italienische, Polnische und Japanische. Die amerikanische Fachpresse bezeichnet ihn als »brillant und wunderschön« (Jim Lewis in The New York Times).

Der Roman wurde erstmals 2005 bei Nan A. Talese, einem Imprint von Doubleday, was wiederum zu Random House Inc. gehört, veröffentlicht. 2014 erfolgte dann die Publikation bei Canongate Books Ltd. in Edinburgh. Bisher existiert, meines Wissens nach, keine Übertragung ist Deutsche. Cullin folgt in seinem sprachlich wunderschön zu lesenden Text, den er im Jahr 1947 ansiedelt, für einige Zeit dem recht einsamen Leben eines mittlerweile 93-jährigen Sherlock Holmes, der auf einem Anwesen in Sussex lebt, Bienen züchtet und langsam aber sicher dem Vergessen anheimfällt, dem Vergessen sowohl im Sinne von vergessen zu werden, als auch sich nicht mehr an alles erinnern zu können. Die allzuschnelle Diagnose ›Altersdemenz‹ wird hier bewusst vermieden, denn danach sieht es nicht wirklich aus. Zur Seite stehen ihm ein Arzt, der ab und an nach ihm sieht, und eine Haushälterin mit ihrem Sohn, zu dem der alte Holmes eine fast schon innig zu nennende Beziehung eingeht. Eine faszinierende Idee, eine äußerst interessante Vorlage, nicht nur für Holmesianer oder Sherlockians.

Bill Condon setzt den Fokus bei seiner filmischen Adaptation zum einen auf die Einsamkeit des Alters und zum anderen auf die faszinierende Frage, was wohl geschähe, wenn Sherlock Holmes eben nicht in einem ›Valhalla‹ für fiktive Erfindungen und Personen seine letzten Tage verbringen würde, sondern eben in der Realität, in der die Berichte seines verstorbenen Chronisten John H. Watson gelesen wurden in der Annahme, es handele sich bei Holmes um eine realexistierende Person, die wirklich gelebt hat. Condon nimmt also die Leser des Strand Magazines und die Sherlock-Holmes-Fans auf der ganzen Welt sehr ernst, in dem er ihren innigsten Wunsch, der Meisterdetektiv sei eine wirkliche Person aus Fleisch und Blut, erfüllt.

Doch wie empfindet eine solche Figur sich selbst in der realen Wirklichkeit? Es wirkt hier schon extrem befremdlich, wenn Mr. Holmes im Kino sitzt und auf der Leinwand sich selbst sieht, wie er einen Fall löst. – Wie geht die Figur damit um, wenn sie, wie ihr Schöpfer prognostizierte, den Weg allen Fleisches gehen muss? Die krampfhafte Suche nach Anispfeffer verdeutlicht hier das sich Aufbäumen gegen das Unvermeidliche. – Welche seelischen Kämpfe ficht eine solche Figur aus, wenn sie Mensch wird und sich als Mensch mit allen Schwächen und Gebrechen des Alters begreifen und anzunehmen lernen muss? Die Bewegungen sind kürzer und eingeschränkter. Nein, Altwerden ist nichts für Schwächlinge oder Feiglinge. – Was wird sie bereuen, welche Fehler wird sie noch gutzumachen suchen? Er nimmt keine Fälle mehr an. – Kann ein Sherlock Holmes überhaupt Fehler haben oder machen? – Warum zieht er sich mit einem Mal nach dem sechzigsten von Watson dokumentierten Fall aus der Öffentlichkeit zurück und ging in Rente, um Bienen zu züchten? Er hat durch die nach seinen strengen Maßstäben moralisch einwandfreie Lösung eines Falles den Tod eines Menschen verursacht und wirft sich diesen Sachverhalt indirekt vor, kreidet es sich als Versagen an.

All das und noch viel mehr bietet dieser stille, ruhige und absolut unaufgeregte Film, in dem es nicht eine Action-Sequenz gibt, in dem es nur die reine, klare Verstandeslogik gibt, die durch menschliche Bedürfnisse in arge Bedrängnis gerät. Und immer wieder sieht sich Mr. Holmes (Sir Ian McKellen, *1939, in einer wahren Glanzrolle) im Spiegel: Er sieht seine fiktive Existenz im Spiegel der Wirklichkeit, die ihrerseits natürlich dadurch, dass er sich darinnen aufhält, selbst einen fiktiven Charakter erhält. – Er sieht sich und sein Leben, seine aktive Zeit, im Spiegel des Jungen Roger (Milo Parker, *2002), der eine große Begabung in ›seiner‹ Wissenschaft der Deduktion zu sein scheint, und dem er etwas mitgeben will, den er vielleicht sogar ›ausbilden‹ will. Roger könnte ihn einmal ersetzen, er könnte ein neuer Mr. Holmes werden. – Und er sieht sich schließlich und endlich im Spiegel der Haushälterin Mrs. Munro (Laura Linney, *1964), der Mutter von Roger und damit irgendwie auch ›seiner‹ Mutter. Er sieht seine Einstellung zu Frauen, die auf ihn zurückgespiegelt wird und mit der er zu lernen hat, umzugehen.

Aber all die Spiegelungen relativieren sich, als er erkennt, dass er schlicht einsam ist, nicht nur weil er alt, sondern eben auch eine Kunstfigur ist, die scheinbar ausgedient hat; eine Kunstfigur, die selbst zur ewigen Nummer zwei, zu Watson, werden muss, um einen letzten Fall, der ihm schwer zugesetzt hat, so schwer, dass er sich danach zur Ruhe setzte, selbst niederzuschreiben, und zwar so, wie es gewesen ist, nicht wie der Chronist Watson es in verklärter Freundschaft dargestellt hat.

Die Aufarbeitung dieses Falles erfolgt in Rückblenden, die immer wieder durch Anfälle von Gedächtnisverlust des einst so brillanten Geistes von Mr. Holmes unterbrochen werden. ›Senilität‹ nennt Mr. Holmes das selbst im Film mit spöttischem Unterton. All das zeigt das oft Unmenschliche der Logik, der sich Holmes zeitlebens verschrieben hatte. Sie zeigt, dass man selbst in der besten Absicht scheitern kann. An dieser Stelle lässt sich, so paradox es auf den ersten Blick erscheinen mag, eine andere fiktive Gestalt aus einem anderen fiktiven Universum zitieren, nämlich den Vulkanier Mr. Spock (Leonard Nimoy, 1931-2015) aus der Serie »Star Trek: Raumschiff Enterprise«. Er formuliert im Film »Star Trek VI: Das unentdeckte Land« (1991) im Gespräch mit seinem Schützling Lieutenant Valeris den rätselhaften, oft interpretierten und zitierten Satz, der für Mr. Holmes in Condons Film zur Maxime wird: »Logik, Logik, Logik! Die Logik ist der Anfang aller Weisheit, Valeris, nicht das Ende. (Logic, logic, logic! Logic is the beginning of wisdom, not the end!)«

Dieser letzte Fall, seine Aufarbeitung und die daraus resultierende Erkenntnis hält den Plot des Films wie Gelee zusammen. Und es ist nicht so, wie man vielleicht erwarten mag, wie es vielleicht die Logik einer solchen Geschichte diktieren könnte, nämlich dass Mr. Holmes am Ende erlöst sterben kann, dass er der Demenz anheimfällt und nicht mehr weiß, wer und was er ist. Nein, der Zuschauer verlässt in der letzten Einstellung einen äußerst lebendigen Mr. Holmes, der Steine zur Erinnerung an die Weggefährten seines Lebens ins grüne Gras legt. Es ist die Hoffnung, die am Ende steht und die der Anfang von etwas Neuem sein kann. Hoffnung darauf, dass es weitergeht, egal wie alt die literarische Figur noch werden mag, egal, was ungezählte Pastiches und Neu- und Nachschöpfungen mit ihr noch anstellen mögen.

Das könnte dich auch interessieren

Kommentare

Aktuelle News