Warum The Witcher 3 eigentlich kein Rollenspiel ist

10.08.2016 - 17:30 Uhr
The Witcher 3
CD Projekt RED
The Witcher 3
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Auch wenn es viele Videospiel-Genres gibt und ich für nahezu jedes einen Platz in meinem Herzen habe, sind es doch die Rollenspiele, die mich mehr als alles andere begeistern. Daher bin ich auch ein wenig wählerisch, wenn es um seine Definition geht.

In der weiten Landschaft der Videospiele haben sich über die Jahre Unmengen an Genres und Subgenres etabliert, die in der Regel dafür herhalten, um Spiele verschiedenster Arten zu kategorisieren. Es gibt Strategie-Spiele, Shooter, Adventure und eben Rollenspiele, um nur ein paar wenige zu nennen. In der Regel sind die Anforderungen an ein solches Genre auch relativ eindeutig, allerdings drängt sich mir mittlerweile häufiger das Gefühl auf, dass besonders der Begriff des Rollenspiels nahezu inflationär gebraucht wird.

Heutzutage verfügt jedes zweite Spiel über sogenannte "Rollenspiel-Elemente", wobei mir regelmäßig die Frage in den Kopf kommt, was diese Elemente eigentlich mit einem Rollenspiel zu tun haben. Besonders haben es mir hierbei die Spiele der The Witcher-Reihe angetan, die allesamt als Rollenspiele gebrandmarkt sind, obwohl sie dieser Bezeichnung meiner Meinung nach nicht gerecht werden.

Wer spielt eigentlich wen?

Spielend ein anderer sein. So definieren die Spielewissenschaftler Siegbert Warwitz und Anita Rudolf ein Rollenspiel. Das könnte grob gesehen natürlich gerade im Videospiel-Sektor auf vieles zutreffen, immerhin sind es nicht wirklich wir selbst, die über metertiefe Abgründe hechten, oder die sich heiße Feuergefechte mit übermächtigen Feinden liefern. Folglich sind in gewisser Weise alle Spiele auch Rollenspiele, oder etwa nicht?

Oberflächlich betrachtet wahrscheinlich schon, doch der Begriff eines Rollenspiels ist nicht erst seit der Erfindung funktionstüchtiger Videospielsoftware gängig. Ein Rollenspiel kann genauso gut auch außerhalb der digitalen Welt stattfinden. Sei es nun ein simples Brettspiel, eine Methode in der Verhaltenstherapie, oder einfach nur zwei Kinder die auf dem Schulhof Ritter spielen. Rollenspiel bedeutet in diesem Fall allerdings nicht, dass wir zu anderen Personen werden, denn niemand wird sich plötzlich in Geralt den Hexer verwandeln, sondern dass wir wie andere Personen denken. Und hier kommt ein entscheidender Faktor zum Tragen: Ein Rollenspiel soll uns laut der ursprünglichen Definition nicht die Möglichkeit geben, einer anderen oder fiktiven Person unsere Entscheidungen aufzudrücken. Stattdessen soll uns vielmehr die Persönlichkeit der gespielten Figur bei unseren Entscheidungen beeinflussen.
Ob Geralt wirklich ein Rollenspielheld ist?

Ein Blick auf klassische Brettspiele, die nächsten Verwandten der Videospiele, hilft dabei zu verstehen, wie sich dieser Grundsatz in Spielregeln ausdrücken lässt. In traditionsreichen Pen & Paper-Rollenspielen wie Dungeons & Dragons, Das Schwarze Auge oder Shadowrun finden wir den Ursprung all jener Elemente, die heutzutage ausschlaggebend für ein Rollenspiel sind. Wenn ich in diesen Spielen meinen Charakter verschiedene Skills anlerne oder ihm gewisse Eigenschaften zuspreche, dann tue ich das hier allerdings nicht nur, um ihn zu einem unaufhaltsamen Abenteurer zu machen, sondern um mir ins Gedächtnis zu rufen, wer ich im Spiel eigentlich bin, denn das muss ich mir in diesem Fall selber vorstellen.

Hier liegt der Reiz hauptsächlich darin, jemand anderes zu sein und dementsprechende Entscheidungen zu fällen. Ich persönlich halte es womöglich nicht für die beste Idee, einem schwer bewaffneten Gardisten die Brötchen zu stehlen, aber mein kleptomanischer und größenwahnsinniger Dieb sieht das vermutlich ganz anders, also muss ich mich entsprechend verhalten, sonst funktioniert das Spiel nicht. Dann bin ich nämlich nicht besagter Meisterdieb, sondern Fabi der Student, der Freitagabends mit seinen Freunden an einem Tisch sitzt und auf Papier kritzelt.

Helden sind keine Massenware

Allein die Definition eines Helden sagt bereits aus, dass wir hier jemanden vor uns haben, der einzigartig ist. Er hat besondere Fähigkeiten und hebt sich dadurch von der Masse ab. Um sich von der Masse abzuheben, muss er also die Möglichkeit haben, zu entscheiden, was ihn eigentlich so besonders macht. Ob gleich zu Beginn wie in Baldur's Gate oder erst im Laufe des Spiels wie es bei Gothic der Fall ist. Eine Klasse sollte mehr sein als nur die Wahl, mit welcher Waffe meine Figur bevorzugt auf Gegner einschlägt. In The Witcher 3 wird mir nicht nur Möglichkeit genommen, selber festzulegen, wie mein Charakter aussehen soll, ich kann nicht einmal entscheiden, ob ich ein Hexer sein will oder nicht. Innerweltlich ist Geralt durchaus etwas Besonderes und trifft auch die Definition eines Helden, aber mein Geralt ist nichts Besonderes im Vergleich zu anderen Spielern.

Selbstverständlich ist es offensichtlich, dass ich in The Witcher auch einen Hexer spiele und aus diesem Grund kann das Spiel storytechnisch auch ein Niveau erreichen, von dem andere Open World-Spiele meilenweit entfernt sind. Aber wenn ich mir vor Augen halte, dass es in Rollenspielen nicht nur darum geht, eine andere Person zu lenken, sondern darum zu entscheiden, was das für eine Person sein soll, dann fällt Geralt klar aus diesem Rahmen heraus.
In Skyrim können wir sein wer wir wollen.

Abgesehen davon, gibt es praktisch kein Rollenspiel, das verstanden hat, wie wichtige eine variable Hintergrundstory ist, um sich mit einem Charakter zu identifizieren und ihn zu etwas Besonderem zu machen. Damit meine ich keine fünf stündigen Intro-Sequenzen, in denen wir in die Welt eingeführt werden, sondern rede von der Möglichkeit, je nach Charakter anders in das Spiel zu starten. Dragon Age: Origins hat es damals geschafft, mein Herz zu erobern, allein weil ich wusste, dass mein Zwerg nicht die gleiche Vergangenheit hat wie ein Mensch. Als Zwerg wurde ich beispielsweise mit dem Kastensystem konfrontiert, aus dem es kaum ein Entrinnen gab oder durfte mich als Sohn des Königs in die Politik einmischen, während adelige Menschen zu Beginn in der Burg ihres Vaters lebten und einer Verschwörung zum Opfer fielen. Es ist mir ein Rätsel, wie dieses Feature in späteren Teilen gekürzt werden konnte, denn nie war es spannender ein Spiel von vorne zu beginnen.

Mehr als nur Skilltree oder Levelaufstieg

Es hat sich über die Jahre eingebürgt, jene Features als "Rollenspiel-Elemente" zu bezeichnen, die ursprünglich nur in Rollenspielen zu finden waren. Meistens geht es hierbei lediglich um Levelaufstiege, oder Fähigkeitenbäume. Wenn es die Option gibt, dass mein Spielfigur neue Talente erlernt, oder einfach stärker werden kann, dann ist es in den Augen vieler bereits ein Rollenspiel. Doch meiner Auffassung nach wird diese Defintion dem Begriff nicht gerecht.
In Wasteland 2 erstellen wir eine ganze Gruppe

Was nützt der weitläufigste Skilltree, wenn die tollsten Eigenschaften keinen Einfluss auf meine Entscheidungen nehmen können. In Fallout kann es etwa passieren, dass unsere Figur nur undefinierbare Grunzgeräusche von sich gibt, wenn ihre Intelligenz zu niedrig ist. Eigenschaften wirken sich hier direkt darauf aus, wie wir Probleme angehen können. In The Witcher habe ich immer die gleichen Wahlmöglichkeiten, denn Geralt kann weder klüger oder charismatischer werden und bleibt damit in jedem Durchgang die selbe Person. Ein Rollenspiel sollte aber nicht nur die Option bieten, durch unsere Entscheidungen die Geschichte zu beeinflussen, sondern auch unseren Helden anhand dieser Entscheidungen definieren. Zwar kann es durchaus sein, in anderen Durchgängen Geralt rücksichtsloser, oder gutmütiger agieren zu lassen, aber das ändert nicht seine grundlegenden Charakterzüge und Wertvorstellungen. Geralt wird immer die selbe Person bleiben, mit leichten charakterlichen Nuancen.

Ein Rollenspiel ist so viel mehr als eine Open World gepaart mit unterschiedlichen Storysträngen und Fähigkeitsbäumen. Es geht nicht nur um Zahlen und optionale Nebenquests. Ein Rollenspiel gibt uns die Freiheit zu sein wer wir wollen, es ist das Improvisationstheater abseits der Bühne. Jeder Durchgang sollte die Möglichkeit bieten, mehr als nur eine denkbare Persönlichkeit zu Generieren und die Persönlichkeit der Figur sollte Einfluss auf die Spielwelt habe. Diese Optionen sehe ich bei The Witcher 3, sowie bei vielen anderen Rollenspielen, nicht. Es ist nach wie vor ein herausragendes Videospiel, aber für mich einfach kein richtiges Rollenspiel.

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