Wer an das FIFA-Momentum glaubt, betrügt sich selbst

01.07.2016 - 18:30 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
FIFA-Momentun oder "Wenn Schwerkraft für Torwärte keine Bedeutung hat"
EA Sports
FIFA-Momentun oder "Wenn Schwerkraft für Torwärte keine Bedeutung hat"
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Schon seit Jahren diskutieren FIFA-Fans darüber, ob in der Fußballsimulation ein versteckter Algorithmus steckt, der den Spielverlauf hinter den Kulissen manipuliert. Das erklärt absurde Aufholjagden, verschossene Elfer und andere peinliche Angelegenheiten. Aber ist das nicht nur Aberglaube?

Mit einem Video will ein YouTuber bewiesen haben , dass der FIFA Ultimate Team-Modus in FIFA 16 den Spielern suggeriert, ihre Fußballer spielen besser, als sie es tatsächlich tun. Die Reaktionen auf diese vermeintliche Enthüllung sind gigantisch und viele Spieler sind sich jetzt sicher: Das FIFA-Momentum existiert! Bereits seit Jahren soll EA Sports dafür sorgen, dass wir für zu gute Leistungen bestraft werden, um die Balance des Spiels vorgaukeln zu können. Die Diskussion wird mit harten Bandagen geführt und die Argumentation erinnert oft an die großen Verschwörungstheorien der letzten Jahrzehnte.

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Mein Kollege Fabiano und ich spielen schon seit unserer Kindheit Fußballsimulationen und hatten unseren Spaß mit Kick Off, Sensible Soccer, International Superstar Soccer, PES und eben auch FIFA. An das Momentum glauben wir zwar nicht, aber wir können verstehen, warum sich das Gerücht so hartnäckig hält. Wir haben es uns auf der Ehrentribüne gemütlich gemacht und plaudern etwas über Misstrauen, Ehrgeiz und Scham.

Was ist eigentlich mit “Momentum” gemeint?

Hannes: Bevor wir hier ganz tief ins Thema abtauchen, sollten wir vielleicht erst einmal klären, wovon wir sprechen, wenn es um das FIFA-Momentum geht. Mit dieser Ultimate Team-Enthüllung hat das ja eigentlich nichts zu tun, oder?


Fabiano:
Ganz nüchtern betrachtet, ist das natürlich richtig. Die Ultimate Team-”Enthüllung” zeigt erst einmal nur, dass FIFA nicht frei von Fehlern ist und hat nichts mit dem sogenannten Scripting zu tun, über das sich Spieler seit Jahren aufregen. Momentum ist aber ein sehr weit gefasster Begriff und wird mittlerweile für alles Mögliche gebraucht.

Hannes: Ja, wenn sich über das Momentum beschwert wird, dann geht es um den plötzlichen Leistungsabfalls des eigenen Teams, das aber nicht verändert wurde. Also wenn ich 10 Spiele in Folge mit einem Kantersieg für mich entscheide, plötzlich aber mehrere Spiele lang unter Torflaute leide. Oder sogar noch der Wechsel im Spiel, wenn die 2:0-Führung durch “Zufälle” immer wieder eindampft. Ich verstehe es als dynamisches, aber verstecktes Balancing. Siehst du das ähnlich?

Fabiano: Nun, ich verstehe unter Balancing eher die Ambition eines Spiels, Chancengleichheit dadurch zu gewähren, dass es keine Elemente gibt, die entweder zu stark oder zu schwach sind. In Counter-Strike: Global Offensive oder Overwatch werden gute Spieler schließlich auch nicht sabotiert. Da viele Spieler aber das Gefühl haben, bei FIFA manipuliert zu werden, regt sie das natürlich auf. Glaubt man den Kommentaren im Internet, ist Momentum eher der Versuch, schlechte Spieler langfristig zu motivieren, oder dafür zu sorgen, dass guten Spielern nicht langweilig wird. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs. Viele sehen es auch als den Versuch von EA, Spieler dazu zu bewegen, mehr Geld für Kartenpacks im FUT-Modus zu zahlen, weil sie nie gut genug sind, um nur noch zu gewinnen.

Gerade bei Standardsituationen wird schnell vom Momentum geredet

Hannes: Auf jeden Fall übt der Momentum-Mythos einen gewissen Druck auf die Entwickler aus. Was sagt EA denn eigentlich dazu?

Die Gegenposition ist eindeutig: EA sagt NEIN!

Fabiano: EAs Position lässt wenige Fragen offen. In allen Interviews, die Chef Gameplay Producer Aaron McHardy zu dem Thema geführt hat, ist seine Aussage: “Nein, wir haben kein Momentum im Spiel.”  Diese Meinung vertritt er auch nicht erst seit diesem Jahr, sondern betont es immer wieder. Er hält einen solchen Algorithmus zwar nicht für unmöglich, aber für viel zu kompliziert um praktikabel zu sein.

Hannes: Natürlich muss man dazu sagen, dass EA es wohl kaum zugeben würde, wenn es das Momentum wirklich gäbe. Der Vorwurf an sich impliziert ja schon die Unterstellung, dass die Entwickler bewusst das Spiel manipulieren und dies nicht kommunizieren. Aber sie dementieren es ja auch nicht einfach nur, sondern gehen darauf ein. Ihnen ist bewusst, dass manche Spieler diese Überzeugung haben und versuchen zu erläutern, dass ein solcher Algorithmus schlicht zu aufwendig sei. Sie geben ja sogar zu, dass es eine Art “Momentum” tatsächlich einmal gegeben hat, oder?

Fabiano: Indirekt schon. In einem Interview erklärte McHardy einmal , dass sie für kurze Zeit eine Mechanik in UEFA Euro 2008 hatten, die die emotionalen Schwankungen der Sportler simulieren sollte. Heißt: Eine Mannschaft, die in Führung geht, oder viele Pässe an den Mann bringt, tankt Selbstbewusstsein und wird besser. Viel simpler also als das, was heutzutage unterstellt wird. Dieses “Momentum” wurde allerdings schnell wieder gestrichen. Nur heute glaubt jeder, es steckt ein System dahinter, das dafür sorgt, dass Spieler automatisch verlieren oder gewinnen, egal was sie tun. Das zeigt nur wieder, wie schwer es ist, eine Definition für das Momentum zu finden. Glaubst du denn, dass es sich für EA überhaupt lohnen würde, so ein Scripting ins Spiel aufzunehmen?

In UEFA Euro 2008 hat EA mit "Momentum"-Mechaniken experimentiert

Hannes: Ich halte es für schwieriger, einen Algorithmus zu entwickeln, der jahrelang unentdeckt bleibt, als einfach dafür zu sorgen, dass die Balance stimmt. Es sprechen viele Dinge gegen das Momentum und dennoch ist der Mythos einfach nicht totzukriegen. Wie kann das Momentum denn einerseits so offensichtlich sein, sich anderseits aber nicht beweisen lassen?

Aber warum glauben die Fans daran?

Fabiano: Wie das Gerücht um das Momentum überhaupt in Umlauf geriet, ist heute kaum mehr nachzuvollziehen. Vielleicht lag es wirklich an Euro 2008, das es einer breiten Masse bekannt wurde. Ich gehe von einem klassischen Schneeballeffekt aus. Je mehr die Leute im Internet feststellten, dass andere Spieler ähnliche Erfahrungen machten wie sie selbst, umso mehr begannen sie auch die Gerüchte zu glauben. Menschen neigen dazu, jede Ausrede zu schlucken, die ihr eigenes Unvermögen relativiert. Aber vielleicht tue ich den Leuten mit dieser Einschätzung ja Unrecht.

Hannes: Es fühlt sich unverschämt an, es zu sagen, aber das Momentum ist ein dankbarer Mythos, dem die Schuld zugeschoben werden kann, wenn es in FIFA mal nicht so läuft, wie es manche Spieler eigentlich gewohnt sind. Denn wer gibt schon gern zu, dass die unzähligen Lattentreffer und Konter, denen man zum Opfer gefallen ist, einfach nur aus mangelnder Konzentration oder zu viel Selbstbewusstsein entstanden sind. Von Menschen geschaffene Systeme sind fehleranfällig und laden solche Schuldzuweisungen ja geradewegs ein. Beschwerden über Lags sind in Online-Titeln ja keine Ausnahme.

Fabiano: Es wirkt alles so, als würden Spieler einem Videospiel nicht die gleichen Phänomene verzeihen, die auch im echten Fußball vorkommen. Wie oft wurde es auf das Momentum geschoben und als “unrealistisch” tituliert, wenn eine 5 Sterne-Mannschaft gegen eine mit 4 Sternen verliert. Wenn man sich dann aber ansieht, wie Island durch die EM marschiert, ist es wohl doch nicht mehr so unrealistisch. Ich habe auch schon echte Spiele gesehen, in denen ein Gegner dominiert und schließlich den Kürzeren zieht. Das ist Fußball. FIFA simuliert schließlich auch die Ausdauer der Spieler und taktische Möglichkeiten.

Auch Superstars wie Christiano Ronaldo leiden unter plötzlichen Formschwankungen

Hannes: Genau auf diese Erfahrungen beschränken sich dann auch oft die vermeintlichen Beweise für die Momentum-Theorie. Wie kann es denn sein, dass ich gegen eine schwache Mannschaft verlieren, obwohl ich deutlich besser spiele? Da muss ein Fehler sein! Ein paar handfeste Beweise gab es in den letzten Jahren dann aber doch, was ist davon zu halten?

Fabiano: Wie du sagst, beschränken sich diese Beweise zum größten Teil auf YouTube-Clips , in denen Montagen gezeigt werden, wie oft doch gegen den Pfosten geschossen wird oder Schiedsrichter falsche Entscheidungen fällen. In einem Video springt sogar die Elfmeter-Anzeige plötzlich auf Rot. Das sind keine Beweise für das Momentum, das sind entweder ärgerliche Glitches oder eben zuvor schon erwähnte Ausnahme-Spiele, die aufgrund der Vielzahl an Spielern nun einmal häufiger auftreten als im echten Fußball. Der einzige Beweis, der nicht in einem Video zu sehen ist, ist eine Tabelle, die von einem ehemaligen EA-Mitarbeiter veröffentlicht wurde . Darin soll zu sehen sein, wie das Spiel auf gewisse Ergebnis-Differenzen reagiert. Dabei kann es sich aber auch ebenso gut um eine Fälschung handeln oder die Punkte könnten eine vollkommen andere Bedeutung haben. Es ist beispielsweise bekannt, dass FIFA gewisse Ereignisse registriert, um die Zuschauer im Stadion oder die Kommentatoren angemessen reagieren zu lassen. Nicht aber, um das Spiel zu scripten. Nirgendwo sonst würden solche Beweise für eine Bestätigung reichen. Hier für viele offenbar schon. Das Problem ist nicht das Spiel, sondern wir selbst.

Mentale Blockaden & das Momentum

Hannes: Ich kenne das Momentum ja selbst, aber nicht aus der FIFA-Reihe sondern aus den PES-Spielen. In den ewigen Duellen gegen meinen kleinen Bruder war ich stets der Bessere und hatte dementsprechend einen hohen Anspruch an mich selbst. Ich bin besser als er, also muss ich auch gewinnen. Jede Niederlage hat mich fuchsteufelswild werden lassen und ich habe die KI beschimpft, die offenbar einfach die Aktionen meines Bruders hat besser werden lassen. Ich fühlte mich betrogen und wäre nie auf die Idee gekommen, mich zu fragen, ob es nicht am selbstgemachten Druck liegt, dass ich auch mal verliere. Mentale Blockaden sind natürlich und lassen sich überall im Alltag finden. Und wenn ich zu viel von mir selbst erwarte, dann baut sich Frust auf.

Auch bei Pro Evolution Soccer 4 hatte ich damals an mir gezweifelt

Fabiano: Erwartungsdruck ist etwas, das jeden von uns beeinflusst. Seien es unsere eigenen Ansprüche oder jene der Personen um uns herum. Selbst die erfolgreichsten Fußball-Stars sind diesem Druck von Zeit zu Zeit nicht gewachsen. Sie verschießen Elfmeter, die sie normalerweise im Schlaf verwandelt hätten. Viele behaupten, das Momentum sei ein Phänomen des Online-Modus oder gäbe es nur in FUT, aber auch ich, der wenig online spielt, habe Phasen, in denen ich nicht an meine Normal-Form anknüpfen kann. Wie oft habe ich im Karriere-Modus schon die Liga dominiert, nur um im entscheidenden Spiel das Heft aus der Hand zu geben. Der Druck ist immer da und beeinflusst unsere Fähigkeiten. Manchmal hilft da nur, das Spiel zur Seite zu legen und später weiter zu machen.

Hannes: Hier greift leider wieder der Effekt, dass Videospiele als neutrale und objektive Erfahrungen wahrgenommen werden. Die Möglichkeit, dass der eigene Körper oder die eigene Psyche nicht immer dieselbe Leistung abrufen können, kommt im FIFA-Kontext gar nicht in Frage. Egal wie die Umstände auch sind, der persönliche Skill muss jederzeit abrufbar und jedes Erfolgserlebnis muss immer reproduzierbar sein. Wenn das mal nicht der Fall ist, dann kann ja nur die böse Absicht der Entwickler dahinterstecken. Ich vermute, dass es um das Momentum anders stünde, wenn es hier nicht um Electronic Arts gehen würde.

Was hätte ein echtes FIFA-Momentum für Folgen?

Fabiano: Was schon allein daran zu sehen ist, dass, wie du schon sagst, PES ab und an ähnliche Phänomene aufweist, aber um Längen nicht so harsch kritisiert wird wie FIFA. Dabei muss man sich nur einmal vor Augen halten, was so ein System für Folgen hätte. EA würde sich damit nämlich keinen großen Gefallen tun. Auch wenn manche Spieler es gerne so sehen, aber EA ist nicht der Teufel. Eine Firma dieser Größe kann es sich gar nicht erlauben, ihre Spieler mit versteckten Algorithmen hinters Licht zu führen, um seinen Geldbeutel schneller zu füllen. Dafür braucht es diesen Algorithmus gar nicht, FUT wäre auch so finanziell erfolgreich. Und wenn es sich wirklich lohnen würde, warum gibt es dann kein Momentum in Madden?

Auch in Madden NFL 16 gibt es Beschwerden, aber das FIFA-Niveau wird nicht erreicht

Hannes: Ja, oder grundsätzlich in jedem anderen EA-Titel, der mit einer Online-Funktion ausgestattet ist. Das Image von EA hat längst absurde Züge angenommen, was wir nicht zuletzt daran sehen, dass der Publisher schon mehrfach zur furchtbarsten Firma der Welt gewählt wurde , obwohl bei diesen Abstimmungen auch Konzerne zur Auswahl stehen, die tatsächlichen Schaden in der Welt angerichtet haben. Die Abneigung gegen EA steht in keinem Verhältnis zu den fragwürdigen Entscheidungen, die der Publisher ja tatsächlich manchmal trifft. Für die Extra-Einnahmen würde EA schließlich auch den eSport-Status der FIFA-Reihe riskieren.

Fabiano: Das kommt natürlich noch dazu. Wahrscheinlich gibt es noch deutlich mehr Gründe dafür, dass das Momentum nicht mit der Inbrunst verteidigt werden sollte, wie es seit Jahren getan wird. Ich will niemanden ausreden, ein wenig Skepsis an den Tag zu legen, aber nicht jede Ungereimtheit ist gleich eine böse Absicht der Entwickler. Das Momentum ist für mich eine Mischung aus Misstrauen, Psychologie und kuriosen Zufällen, wie sie nicht nur in FIFA zu finden sind.

Hannes: Das sehe ich ganz ähnlich. Die Ungereimtheiten hinter absurden Spielverläufen und vermeintlichen Pechsträhnen drängen sich zwar unweigerlich auf, aber vielleicht ist das große Mysterium ja einfach nur der Mensch und nicht der Spiele-Code. Mit diesem unnötigen Philosophie-Einschlag verabschieden wir uns und gehen in die Werbung.

Bis zum nächsten Mal!

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