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Wie bewertet man Bewertungen?

29.09.2019 - 06:00 UhrVor 4 Jahren aktualisiert
Wer sich bei der Filmauswahl auf User-Durchschnittsnoten und scheinbar einstimmige Lobes-Kommentare verlässt, kann wie Clint Eastwood in ‚Die Brücken am Fluss‘ (1995) schnell im Regen stehen
Amblin Entertainment
Wer sich bei der Filmauswahl auf User-Durchschnittsnoten und scheinbar einstimmige Lobes-Kommentare verlässt, kann wie Clint Eastwood in ‚Die Brücken am Fluss‘ (1995) schnell im Regen stehen
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Starke Filmbenotungen sind oft ins Positive verzerrt, was nicht-repräsentativem und nicht-einheitlichem User-Verhalten entspringt. Wer sich informieren will, sollte die selteneren Kommentare mit schwachen Bewertungen gewichten wie die positive Masse.

Eine Zusammenfassung wissenschaftlicher Analysen zum Verhalten Bewertender bzw. Nicht-Bewertender auf Online-Plattformen gibt zu denken („Die rosarote Brille“, Bild der Wissenschaft , 2019/3, S. 90-92). Es dreht sich darin zwar um Handelsplattformen und das Bewertungsverhalten der Käufer, aber die grundsätzlichen Prinzipien scheinen auch auf Plattformen wie MP übertragbar und begründen im Wesentlichen, was hier nach einiger Zeit unweigerlich auffällt: „Bewertet wird vor allem, was gefällt“ und „Rezensionen, die von Menschen stammen, die sehr viel bewerten, sind verlässlicher“. Im Verbund sprechen beide Forschungsergebnisse etwas Wesentliches auch zum Film an: vor allem hohe Durchschnittsbewertungen reflektieren oft alles andere als die Meinung des allgemeinen Publikums, weil die meisten User nur gelegentlich vorbeischauen, um eine Bewertung abzugeben und dabei weit überwiegend Filme bewerten, die ihnen gefallen haben.

Das ist noch nicht alles.......

Dazu gesellt sich das Phänomen der „kognitiven Dissonanz“, die ein Durchschnittskunde unterbewusst zu verringern strebt. Im Klartext: Käufer bewerten ein Produkt oft besser, als es ihrer Zufriedenheit damit entspricht, um sich selber vorzugaukeln, dass es der erwartete Volltreffer war, oder wenigstens kein Fehlkauf. Vor allem bei sehr guten Bewertungen spielt die kognitive Dissonanz eine Rolle. Nicht wenige MP-User tendieren dazu, hohe Bewertungen anzubringen, selbst wenn sie einen Film nur mittelmäßig finden, obwohl die MP-Bewertungsskala mit einem erläuternden Wortlaut versehen ist (z.B. 4 = uninteressant, 5 = geht so). Das fällt vor allem beim Lesen der Kommentare auf, wo z.B. ein Film als „oberes Mittelmaß“ eingestuft, aber mit 8 Punkten bewertet wird (MP: 8 = ausgezeichnet). Viele User fühlen sich mit einer höheren und damit vermeintlich besseren Bewertung scheinbar wohler, was einer angestrebten Objektivität oder Repräsentativität der Plattform einen Strich durch die Rechnung macht. Ein nach Entscheidungskriterien suchender User (Film anschauen oder nicht?) steht somit in den meisten Fällen einer mehr oder weniger ins Positive verzerrten Durchschnittsbewertung gegenüber, welche alles andere als den Durchschnitt der MP-User wiederspiegelt, die den Film gesehen haben (da die, die einen Film schlecht oder mittelmäßig fanden, ihn mehrheitlich nicht bewertet haben, oder aufgrund kognitiver Dissonanz höher, als sie ihn wahrnahmen, bzw. es der MP-Skala entspricht).

Am krassesten drückt sich das bei den Serien aus, wo tendenziell noch weniger User negativ bewerten, weil sie die Serie nach ein paar Folgen oder einer Staffel bereits aufgegeben haben, sich jedoch zu unvollständig informiert fühlen, um zu bewerten. Selbst wenn sie keine Scheu hätten, einen Film schlecht zu bewerten. Das führt auf MP zu teils aberwitzig ins Positive verzerrt bewerteten Serien.

Zu alldem kommt, dass das MP-Klientel weit vom Durchschnitt des Kinopublikums entfernt ist. Die hier aktiven bzw. über Kommentare sichtbaren Filmfans sind überdurchschnittlich „Anspruchs“- und „Moral“-orientiert, sowie langatmigkeitsresistent (d.h., sie haben eine längere Aufmerksamkeitsspanne). Vertreter dieser Richtungen bilden zu entsprechenden Filmen häufig die mit Abstand größte bewertende Gruppe. So kommt es, dass einer evtl. nur kleinen Schicht gefallende Filme mit einer hohen Durchschnittsnote versehen sind, obwohl das allgemeine Publikum dieselben Filme meidet wie der Teufel das Weihwasser, was sich u.a. an katastrophalen Einspielergebnissen zeigt.

Diese Trends zeigen sich umso ausgeprägter, je weniger Bewertungen ein Film insgesamt hat. Bei Filmen deutlich unter hundert Bewertungen kann ein extremer Hype in Erscheinung treten, wenn am Film Beteiligte und deren Umfeld geschlossen auftreten. Das merkt man daran, dass Bewertende ihr Profil am selben Tag erstellt bzw. nur den einen oder wenige Filme bewertet haben.

Umgekehrt gelten diese Trends auch für Filme mit niedriger Durchschnittsnote, was aber viel seltener vorkommt. Die meisten User werden feststellen, dass ihre Einigkeit mit dem Bewertungsschnitt bei solchen Filmen größer ist, als bei hoch bewerteten. Das kommt nach obigen Erkenntnissen wohl hauptsächlich daher, dass die große Mehrheit des Publikums sie wirklich so schlecht findet, dass die positiven Bewertungen ausbleiben und die kognitive Dissonanz keinen Einfluss mehr hat – selbst im Autosuggestivmodus ist das nicht mehr schönzureden. Daher sammeln sich bei solchen Filmen die schlechten Bewertungen der Vielbewerter an und überwiegen. Mit anderen Worten: auf MP schlecht bewertete Filme wird man pro rata häufiger ebenso einstufen wie stark bewertete. Es gibt jedoch eine Ausnahme, die im Lieblingsgenre liegt, wo die eigene Toleranz größer ist als die der Allgemeinheit. In diesem Fall sollte man sich von überwiegend schlechten Bewertungen nicht abschrecken lassen. Ich liebe z.B. Alien-Invasionsfilme und kann manchmal dem billigsten Schwachsinn noch Unterhaltungswert abringen - sei es nur wegen des unfreiwillig witzigen Aspektes, der wiederum von der individuell höchst unterschiedlichen Wahrnehmung von Humor abhängt.... und vom Alkoholpegel.

Ein Silberstreif am Horizont

Fassen wir zusammen: wenn ein User nach einem für ihn geeigneten Film sucht, oder einen angebotenen auf mögliches Gefallen hin überprüfen will, entspricht das Verlassen auf eine positive Durchschnittsbewertung in etwa russischem Roulette. Er hat aber die Möglichkeit, über die Kommentare einzelne Meinungen in Erfahrung zu bringen. Darunter sind i.d.R. auch solche, die nicht in das kollektive Horn stoßen, sondern sich unter anderen Gesichtspunkten kritisch mit dem Film auseinandersetzen und eine negative oder mittelmäßige Bewertung nachvollziehbar begründen. Der Wert solcher Kommentare liegt vor allem in der Alternative, die sie bieten und womit sie in vielen Fällen sogar eher das Durchschnittspublikum repräsentieren als die vielen Lobes-Kommentare, die überwiegend derselben Zuschauerschicht entspringen.

Die Chance für den informationssuchenden User besteht vor allem darin, sich nicht von der Masse irritieren zu lassen und bewusst diesem u.U. nur einen, begründet negativen Kommentar genauso viel Gewicht zu geben, wie den unisono positiv bewertenden.

Eine weitere Möglichkeit bestünde darin, viel kommentierenden Usern mehr Gewicht zu verleihen, da Analysen zufolge deren Bewertungen repräsentativer sind: „Es gibt eine Normalverteilung“ (die es bei gelegentlich Bewertenden kaum gibt, da ihr Bewertungsspektrum zum Positiven hin verzerrt ist). Auf MP sind z.B. Horror-Experten aktiv, deren Kommentare ich als wesentlich hilfreicher und on-the-spot empfinde, als oft nur Gefühle beschreibende Meinungen, oder als manche Artikel, die hin und wieder vom MP-Personal zum Film/Thema veröffentlicht werden. Diese Informationsquelle ist jedoch nur für fortgeschrittene und angemeldete User nutzbar, da man wissen muss, wohin man sich wendet, und denjenigen auch in der Freundesliste haben sollte. MP gibt zwar in jedem User-Profil die Zahl der abgegebenen Kommentare an, aber leider nicht, wie viele davon zu Filmen und wie viele zu MP-/User-Artikeln geschrieben wurden. Ad hoc ist somit nicht zu erkennen, wer viele Filme begründet kommentiert. Hier besteht ohne Zweifel Verbesserungspotential in der User-Darstellung (d.h., MP könnte angeben, wie viele Filme kommentiert wurden, und die Durchschnittswortzahl pro Kommentar).

Natürlich bewertet und kommentiert jeder nach seinem Geschmack und seiner Wahrnehmung, so dass bei niemandem Objektivität zu erwarten ist. Dennoch kann eine gut begründete Ansicht durchaus den Abgleich mit dem eigenen Geschmack ermöglichen, und darauf kommt es bei der Informationssuche letztlich an. Ich bin mir beispielsweise sicher, mit Anwendung der hier vorgeschlagenen Kriterien schon viel kostbare Lebenszeit und hunderte von positiv bewerteten, aber in meinem Geschmack höchstwahrscheinlich als Gurken wahrgenommene Filme gespart zu haben. So kann die MP-Community das Leben angenehmer machen ;-)

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