Zum Glück war Kristen Stewart da: Everybody Knows eröffnet Cannes

09.05.2018 - 09:00 UhrVor 5 Jahren aktualisiert
Everybody Knows: Penélopé Cruz und Javier Bardem
Prokino
Everybody Knows: Penélopé Cruz und Javier Bardem
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Penélope Cruz und Javier Bardem werden in Asghar Farhadis Everybody Knows in einen Entführungsfall verwickelt. Doch eigentlich würde ich lieber über ein Winken von Kristen Stewart schreiben.

Wer noch nie die Eröffnungszeremonie des Festivals in Cannes gesehen hat, muss sich das so vorstellen: Nach dem Schaulaufen auf dem Roten Teppich führt ein Komiker oder Schauspieler mit einem Monolog ins Geschehen ein. So weit so konventionell. Es gibt die üblichen Montagen zur Filmgeschichte, unterbrochen von der Regie, die sich bereits nach fünf Minuten festlegt, welche drei Stars sie im Publikum in der kommenden Stunde zeigen wird. Am rechten Rand der Bühne aber drängt sich eine seltsame Präsenz ins Bild. Eine riesige, zweireihige Couch glaubt der Beobachter zu erkennen. Ganz in weiß und beleidigend selbstverständlich steht sie unter einem goldenen Palmenwedel, ein Arrangement, das in einer Reality Show geschmackvoll aussehen würde. Wenigstens da.

Mittlerweile steht Festivalleiter Thierry Frémaux auf der Bühne und läutet den Höhepunkt des Abends ein: Ja, es ist ein aufregenderer Moment noch als der Eröffnungsfilm von Asghar Farhadi, Everybody Knows mit Penélope Cruz und Javier Bardem, ein Entführungsthriller mit der Nuance einer Seifenoper, aber nicht ihrem Herz. Zurück zum Höhepunkt: Frémaux, kein Freund von Telepromptern, beginnt die Jury des Wettbewerbs Mitglied für Mitglied auf die Bühne zu holen, die sich auf diese monströse Couch setzen, die Auserwählten in einem cineastischen Running Man-Szenario, das zehn Tage Ausdauer und Opferbereitschaft erfordert. Oder so. Einige verdienstvolle und/oder berühmte Menschen pflanzen sich da auf das Möbelstück des Grauens, doch ein Auftritt überstrahlt alle anderen: der von Kristen Stewart.

Cannes ohne Kristen Stewart ist mittlerweile undenkbar

Ich gebe es zu. Während sich alle über den Mangel an großen (amerikanischen) Autorenfilmern im Wettbewerb von Cannes eschauffieren, fehlt mir eigentlich nur eine Person zum Croisette-Glück: Kristen Stewart. In den letzten Jahren war sie ein Stammgast, mindestens im Geiste, immerhin ist jeder Robert Pattinson-Film letztendlich eine Erinnerung daran, dass irgendwo jetzt in diesem Moment auch Kristen Stewart existiert. In diesem Jahr allerdings: Sense. Keine Kristen im Programm, kein RPattz. So muss es die Mitgliedschaft in der Jury herausreißen, die unter der Leitung von Cate Blanchett steht. Blanchett ist sowas wie der ultimative englischsprachige Cannes-Star. Eine Charakterdarstellerin mit dem Bekanntheitsgrad eines Stars, die auch die aufregenden Filmemacher nicht scheut (anders als eine Meryl Streep zum Beispiel). Den kommerziellen Glanz einer Hollywood-Premiere wertet sie auf, einen Marvel-Film ebenso. Wenn sie über den Roten Teppich von Cannes läuft oder mit dem zwei Köpfe kleineren Martin Scorsese das Festival eröffnet, dann mit einer Vertrautheit, die Hollywood-Stars nicht gegeben ist in diesem Mekka des Autorenfilms. Bei Kristen Stewart sieht das anders aus.
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Kristen Stewart gehört prinzipiell ebenso in beide Welten. Sie trägt ein Franchise in der elegant designten Westentasche und hat sich im Arthouse-Film profiliert. Sogar einen César hat sie gewonnen, eine nicht zu unterschätzende Leistung für eine amerikanische Schauspielerin. Sie ist nicht zuletzt eine Fashion-Ikone und ihre Auftritte auf den Roten Teppichen, etwa mit drei Millimeter kurzen blondierten Haaren, bringen die soziale Medien an den Rand der Kernschmelze. Im vermutlich am meisten geteilten Bild am gestrigen Eröffnungstag war Cate Blanchett nur eine Nebendarstellerin: Es zeigt Stewart mit scheu sich hervorschlängelnden blonden Highlights in der braunen Mähne, wie sie ihre Präsidentin von der Seite anhimmelt. Wir sind alle Kristen Stewart in diesem Moment, aber könnten gleichzeitig nicht weiter von ihr entfernt sein.

Mehr: Cannes 2018 - Meine am meisten erwarteten Filme des Festivals

Das macht einen Teil ihres Charmes auf, wie er sich in öffentlichen Auftritten zeigt. Das Scheue, leicht unbeholfen Elegante ist ihr Ding. Auch auf dem Roten Teppich von Cannes, wo sie gestern mit der Jury in einem Zickzacklauf von Fotografenphalanx zu Fotografenphalanx dirigiert wurde. Am Rand stand sie da neben Chang Chen und suggerierte in Körpersprache und Mimik einen einzigen Widerspruch: Ihrer Präsenz und Wirkung auf die Zuschauer schien sie vollkommen bewusst und gleichzeitig überfordert von der Angelegenheit. Wenn Kristen Stewart über den Roten Teppich läuft, dann tut sie es gleichzeitig zum ersten und zum hundertsten Mal. Aber der Teppich war nicht der Höhepunkt. Der kam auf ebenjener Bühne im Schatten des einschüchternden Mobiliars. Da kündigte Frémaux sie an, verhaspelte sich bei der Kategorie, in der Stewart den César für Die Wolken von Sils Maria gewonnen hatte und rief sie doch noch auf die Bühne. Nun stand der Gang an den vorderen Bühnenrand an, das Hallo an Frémaux und die Zuschauer und schließlich der Weg zur Couch.

Der Höhepunkt des Abends hieß nicht Everybody Knows

Manche der Jury-Mitglieder genossen sichtlich den wortlosen Augenblick und zogen ihn in die Länge. Die meisten setzten sich vorbildlich nebeneinander, ohne freie Plätze zu lassen. Léa Seydoux wiederum, ganz die Cannes-Besucherin, tat das Gegenteil, fast wie im Kino. Cannes-Veteran Denis Villeneuve (Sicario) senkte den Kopf zum Dank an Frémaux. Andrey Zvyagintsev (Leviathan) schüttelte die Hand des Festivaldirektors, der unausgesprochene Dank für die Jahre gegenseitiger Loyalität schwang mit. Kristen Stewart nun betrat das Auditorium, lief voran an den Bühnenrand Richtung Publikum und hob schüchtern die rechte Hand, ein kleines, kaum merkliches "Whazzup?" an die zweitausend Menschen im Saal, als wäre sie gerade auf einer Party angekommen, bei der sie niemanden kennt. Es war ein schon jetzt klassischer Kristen Stewart-Moment und mein persönlicher Höhepunkt der Eröffnung von Cannes. Denn im Kino nebenan saß die versammelte Presse und musste die Zeremonie in der Live-Übertragung mit ansehen, bevor Everybody Knows endlich gezeigt wurde. Eine Stunde nicht untertitelter Langeweile, gerettet durch dieses kurze Winken, das so gar nicht ins erhabene Cannes passen will und es doch so viel schöner macht.

Everybody Knows

Everybody Knows wurde schließlich noch gezeigt. Asghar Farhadi macht sich darin nach The Salesman - Forushande wieder nach Europa auf. Diesmal bringt er sein Händchen fürs uhrwerkartig in einander greifende Drama in ein spanisches Dorf, wo ein Mädchen entführt wird. Penélope Cruz als Mutter ist außer sich - auch im Spiel. Als einzige Beteiligte scheint sie begriffen zu haben, dass sie es mit einer Seifenoper zu tun hat. Einmal läuft sie die Treppe hoch und ruft nach ihrer entführten Tochter, als wäre sie noch im Haus, während ihre Familie entsetzt zuschaut. Dass sich Farhadi nicht auf die melodramatischen Elemente seiner Story einlassen will, sondern lieber eine halbgare Studie über die zersetzenden Fähigkeiten von Neid, Missgunst und Klassenunterschieden zusammenstellt, zeigt sich in dieser Szene in voller enttäuschender Pracht: Während Cruz in wahnsinniger Trauer am Schauspielrad dreht, filmt Farhadi sie in der Totalen und von hinten. Es war ein enttäuschender Festivalauftakt für Cannes in Sachen Film. Aber immerhin war Kristen Stewart da.

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