Ich, Solitär & der Flirt zweier Welten

23.06.2015 - 16:00 Uhr
Karten, Karten, Karten
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Hach, die 90er: Wer seine Freizeit mit Videospielen verbrachte, war ein Nerd und hatte nur Nerd-Freunde, mit denen er auf LAN-Partys gemeinsam rumnerdete — so die Außenwirkung für Nicht-Spieler. Eines brachte jedoch beide Gruppen zusammen: Solitär.

Ich erinnere mich noch daran, als wäre es erst 18 Jahre her: Ich sitze im Informatik-Unterricht meiner damaligen Schule, das unterschwellige Brummen von 32 Rechnern mit je stolzen 700MHz unter der Haube erfüllt den abgedunkelten Raum. Fast vierzig Köpfe blicken leicht vornübergebeugt auf den massiven 16 Zoll-Röhrenmonitor, wie ihn das postapokalyptische Steampunk-Gegnerdesign eines Fallout 4  nicht besser hinbekommen könnte.

Lang ist es her: Windows 95 und Pflicht-Inventar eines jeden Computer-Raums.


Der Andrang zum neu geschaffenen, freiwilligen Unterrichtsfach war gigantisch, die Technik für die meisten von uns Landkindern immer noch neuartig. Viele erhofften sich, zu echten Hackern ausgebildet zu werden, die nach Unterrichtsschluss irgendwelche Atombomben fremdsteuern oder den Ampelverkehr der Stadt lahmlegen können. Fast alle von uns hatten den Kultfilm Hackers - Im Netz des FBI im Kopf, als wir uns zum freiwilligen Nachmittagsunterricht stellten: Hacker waren die gesellschaftstaugliche, rebellische und gleichzeitig romantisch verklärte Variante des belächelten Nerds. Als dann Wunschdenken und Realität in der ersten Stunde aufeinander trafen, flüchtete sich der Großteil der Schülerschaft in die Menüs ihres Computers oder eine der wenigen Internetseiten , die wir auswendig kannten.

Clash of Cultures: "Nerd" vs. "Cooler Junge, dessen Vater Bäcker ist"

Mein Sitzpartner damals, mit dem ich mir ein stolzes Win95-Schlachtross teilen musste, war das beliebteste Kind der gesamten Jahrgangsstufe — und das aus einem einzigen Grund: Sein Vater war Bäcker und überreichte seinem Sohn regelmäßig morgens eine riesige Tüte voller frischer Leckereien, mit denen er dann die Zuneigung seiner Mitschüler immer wieder aufs Neue erwerben konnte.

Konzentrierter Blick, modisch unumstritten, rebellisch: Unsere Erwartungen an den PC-Unterricht.


Aus der Perspektive der Mainstream-Kultur (lies: Mitschüler) war ich im Gegensatz dazu ein "Nerd", was damals einen noch deutlich negativen Beigeschmack hatte. In meinem Zimmer stapelten sich die Disketten von The Secret of Monkey Island  und Day of the Tentacle  während ich regelmäßig mein Super Nintendo bis zum Verglühen spielte.

Da saßen wir also nun, zwei völlig unterschiedliche Welten: Hier der Außenseiter, dort der Liebling der Massen; hier frischgebackener Pokémon-Trainer und mächtiger Pirat, dort Brot für die Welt. Und doch entdeckten wir ziemlich schnell eine Gemeinsamkeit: Solitär.

Das virtuelle Kartenspiel, das bis heute fast ohne Ausnahme auf jedem alten Windows-Betriebssystem vorinstalliert ist, war der Kulturvermittler meiner Kindheit und Jugend: Sowohl er als auch ich kannten und mochten das Spiel und wetteiferten in jeder Unterrichtseinheit aufs Neue um den höchsten Punktestand.

Im Laufe der Zeit wurden unendlich viele Variationen des Spiels geschaffen.


Es war wie eine Umkehrung aller geltenden Verhältnisse — auf gewisse Weise waren wir der B-Movie-Abklatsch von Breakfast Club: Auf dem Heimweg bewarfen wir uns mit Schlamm, doch in diesen regelmäßig wiederkehrenden 60 Minuten waren wir Konkurrenten mit Sportsgeist, die vor dem altersschwachen Monitor respektvoll miteinander um Punkte kämpften. Solitär war das alles verbindende Casual-Spiel in einer Zeit, in der noch niemand etwas von "Casual" gehört hatte.

Aus diesem Grund möchte ich Solitär heute mein Herz und euch das wohl schönste, befriedigendste Video des Internets  schenken. Und bevor wir gemeinsam auf den PLAY-Button klicken, gedenken wir noch einmal für einige Sekunden dem Bäckersjungen, der vielleicht irgendwo auf dieser Welt gerade hinter einer Brötchen-Theke steht und sich nostalgisch grinsend auf eine schnelle Runde Solitär am Abend freut.

(Wahrscheinlich hat er mich vergessen und ich bin gerade grundlos sentimental. Sigh.)

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