So fühlt es sich an, in Fallout 4 abgrundtief böse zu sein

27.12.2015 - 09:00 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
Watch out, we got a badass over here
Bethesda
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Soziale Normen waren mir eines Abend zuwider und ich beschloss, fortan als Abtrünnige durch das Ödland des Commonwealth zu schreiten. Böse zu sein ist in Fallout 4 aber gar nicht so einfach, wie es zunächst den Anschein hatte.

In Rollenspielen bin ich in der Regel immer die Gute. Steht ein Haus in Flammen, bin ich stets die Erste, die hineinläuft, um die im Schutt feststeckenden Bewohner zu befreien. Ist der Spross einer Bauernfamilie im Wald verschwunden, mache ich mich ohne zu Zögern auf die Suche nach ihm und lehne die anschließende Belohnung dankend ab — auch wenn der Geldsack, der mir zu Beginn einer Quest vor's Gesicht gehalten wird, noch so dick ist.

Auch Fallout 4 begann ich als gute Seele. "Miss Linda" (— Codsworth) war das heroische Abbild meiner selbst. Entschlossen, herzensgut und mit einer Eindruck schindenden Narbe über dem linken Auge startete ich mein Ödland-Abenteuer, das mich nach sechs Spielstunden so sehr langweilte, dass ich mich für den radikalen Wandel entschied. Ich konnte mich selbst und mein immerwährendes Gutmenschentum nicht länger ertragen. In RPGs wie Fallout 4 steht mir eine ganze postapokalyptische Welt offen. Ich kann sein, wer ich will. Ich kann handeln, wie ich will. Ich kann befreundet sein, mit wem ich will. Warum muss sich mein Verhalten in einem solchen Spiel dann mit meinem Verhalten als reale Person decken?

So startete mein spontanes Experiment

Die Geschichte der letzten Überlebenden aus Vault 111, die nicht nur ihren Sohn Shaun und den Mörder ihres Mannes finden, sondern auch als strahlende Heldin in die Annalen des Commonwealth eingehen wollte, war am Montagabend um 22:24 Uhr zu Ende — so dachte ich es jedenfalls. Meinen Charakter schrieb ich völlig um und aus "Miss Linda" wurde eine Irre ohne Namen und Moral.

Aus der heldenhaften "Miss Linda" wurde eine Geißel des Ödlands.

Doch was ich mir vorab im Kopf so ausmalte, ließ sich alles andere als einfach aufs Spiel übertragen. So spontan meine Entscheidung, die Seiten zu wechseln auch gewesen mag, so lange dauerte es, bis ich mich mit meiner neuen Gesinnung anfreunden konnte. Es brauchte in den meisten Fällen nur einen Knopfdruck, um NPCs zu beleidigen oder medizinisches Gut nicht direkt beim Verkäufer sondern bequem aus der Kommode seines Hauses zu besorgen. Dennoch scheute ich mich zunächst davor.

Die köstliche Belanglosigkeit des Seins

Allein ich und mein eigenes Weltbild waren für diese Skrupel verantwortlich, nicht etwa Fallout 4 selbst. Irgendwann fiel mir diese entscheidende Erkenntnis wie Schuppen von den Augen und nach vielen Momenten des Zögerns überwand ich mich, jegliche Wertmaßstäbe und Verhaltensweisen abzulegen, mit denen ich sozialisiert wurde: Ich bleckte die Zähne und knurrte dem Detektiv Nick Valentine ein giftiges Four-Letter-Word ins Gesicht. Einmal an der süßen Essenz des Bösen geschnuppert, fand ich bald Gefallen daran.

Derartiges Verhalten gegenüber anderen Spielcharakteren wie beispielsweise aus dem Mass Effect- oder Dragon Age-Universum hätte ich mir nie verziehen. Wenn es darum ging, andere Figuren wie Abschaum zu behandeln, machte es mir das Bethesda-RPG verhältnismäßg einfach: Auch wenn die Nebencharaktere im direkten Vergleich mit den Vorgängern Fallout 3 und Fallout: New Vegas allein schon wegen ihrer ausgefeilteren Mimik, Gestik und Synchronisation lebendiger erscheinen, erreichen sie nicht die Charaktertiefe eines Garrus oder einer Cassandra.

Weder Nick Valentine noch Piper oder Preston Garvey konnten mich mit komplexen Hintergrundgeschichten weichklopfen, sodass mir deren Schicksal letztendlich gleichgültig war. Hinzu kommen Siedler, Barbetreiber, Schrotthändler und zahlreiche andere zivilisierte Bewohner des Ödlands, die mich stets mit der gleichen Leier abfertigten. Das Commonwealth ist ein Sammelbecken von gesichtslosen Mannequins, in dem ich ohne Gewissensbisse lügen, stehlen und betrügen konnte.

Ich habe mir Fallout 4 kaputt gemacht

Mein Verlangen, Unheil zu stiften, wurde nach einiger Zeit immer größer. Ich wurde größenwahnsinnig, verlor den Bezug zur Realität. Niemand bis auf meine grantige Begleiterin Caith gab mir Feedback und ließ mich unmittelbar spüren, was für ein Ekelpaket ich doch war. Stattdessen ist die Art und Weise, wie die Bewohner des Commonwealth mit Strafdelikten umgehen, völlig verquer: Unter Myriaden von Laser-Salven musste ich hindurchtauchen, als ich Tabletts des Aluminiums wegen von der Power Noodles-Theke stahl. Als Schwerverbrecherin humpelte ich aus der Stadt und nur wenige Minuten später kam ich als unverdächtige Durchreisende zurück, die mit dem Waffenverkäufer Arturo handeln, im Dugout Inn schlafen und bei Choice Chops speisen durfte. Keiner der Diamond City-Einwohner behandelte mich wie so, wie ich es eigentlich verdient hätte.

Was konnte ich also tun, um als Abtrünnige wahrgenommen zu werden? Ich musste Fallout 4 an seine Grenzen bringen und alles, was mir in meiner Verzweiflung einfiel, war, eine Miniatombombe in das Zentrum von Diamond City zu schießen.

Der Gifel des Bösen ist in Fallout 4 die vollständige Zerstörung

Dann endete mein Experiment. Der Waffenverkäufer, der Friseur, der Pensions-Besitzer, der Nudel-Roboter — sie alle wurden pulverisiert, waren weg, tot. Ich konnte nie wieder in Diamond City handeln, speisen, schlafen oder mich hübsch machen lassen. Ich habe mir Fallout 4 in meinem Wahn kaputt gemacht.

Die Grenzen von Fallout 4

Am Ende bleibt eine enttäuschende Erkenntnis: Es ist nicht möglich, in Fallout 4 böse zu sein. Zumindest nicht so, wie ich es mir anfangs vorgestellt hatte: Ich wollte als Geißel des Commonwealth durch das staubige Land zu stolzieren; Ich wollte meinen Sohn Shaun und meinen Ehemann Nate vergessen; Ich wollte eine eigene, neue Geschichte schreiben, fernab von meiner Berufung, die mir Bethesda anfangs auferlegte. Die Ödland-Bewohner sollten meinen Namen kennen, mich fürchten und verachten.

Was mir fehlte, waren Quests, mit denen ich einen neuen alternativen Pfad des Bösen eingehen konnte. Auch in Fallout 3 entschied ich mich einmal für die dunkle Seite. Doch dort spürte ich, was ich tat. Unvergessen ist der Auftrag des zwielichtigen Mister Burke, bei dem ich die Stadt Megaton vom Tenpenny Tower aus in die Luft jagen sollte. Mein Karma, das daraufhin unumkehrbar in den Keller sank, diente für den Rest des Spiels als Spiegel meiner Untat. Im Spielverlauf konnte ich weitere infame (oder heroische) Entscheidungen mit den entsprechenden Konsequenzen treffen und so meinen Charakter nach eigenem Gusto formen.

Auch nach fünf Kopfschüssen war Preston Garvey noch mein Freund.

Diese Freiheit gibt es in Fallout 4 nicht. Möglichkeiten, den Charakter in eine bestimmte Richtung zu biegen, bieten lediglich die Dialoge, in denen gutmütig, sarkastisch oder patzig geantwortet werden kann. Das Karma-System wurde hingegen gestrichen. Eine Rückmeldung auf das eigene Handeln geben allein die Begleiter, die entweder zustimmend oder ablehnend reagieren. Doch im gesamten Gefüge des Ödlands spielte es während meines Experiments langfristig nie eine Rolle, dass ich fremde Kommoden plünderte oder einen Siedler aus dem Bett schoss, nur um selbst einige Stunden selbst darin zu schlafen. All meine Bemühungen, böse zu sein, prallten nicht nur an den Einwohnern des Commonwealth, sondern auch an den Vorstellungen der Entwickler ab. Stets hatte ich das Gefühl, in die von Bethesda erdachte eine Richtung gedrückt zu werden. Als ich mich mit Fatman und Mini-Atombombe an die Grenzen des Möglichen begab, brachte ich das Kartenhaus zu Fall und nahm mir selbst den Spielspaß.

In Fallout 4 ist nur ein Weg der Richtige. Um voranzuschreiten, musste ich mich Preston Garvey und den Minutemen anschließen und die Retterin in der Not mimen, weil mir sonst das essenzielle Siedlungsbau-Feature gar nicht nahegebracht worden wäre. Es ist nicht möglich, Garvey und andere Schlüsselfiguren zu töten . Ich konnte sie mir nicht vom Leib halten, sondern wurde von Bethesda in ihre Belange hineingepresst, auch wenn ich sie in meiner erdachten Rolle der Abtrünnigen verschmähte. Die Geschichte von Fallout 4 und die Geschichte der letzten Überlebenden aus Vault 111 ist fest in Stein gemeißelt. Im Endeffekt war ich nie eine Irre ohne Namen und Moral, sondern blieb stets die gute "Miss Linda".

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