Tag 2 - Blau ist eine todlangweilige Farbe

15.05.2015 - 08:50 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
"Ist das eine Bakunin-Gesamtausgabe in deiner Hose oder freust du dich nur mich zu sehen?"
Wild Bunch
"Ist das eine Bakunin-Gesamtausgabe in deiner Hose oder freust du dich nur mich zu sehen?"
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Adèle Exarchopoulos langweilt sich mit Anarchisten und ein Holocaust-Drama geht als erster Favorit ins Rennen um die Goldene Palme von Cannes.

Manchmal ist Kino wie ein Bach. Da watest du etwas genervt durch, spitze Steinchen reiben die Füße auf. Alles ist ziemlich anstrengend und überhaupt, warum durch einen Bach waten? Bis dir auffällt, dass du ganz allein in dem Bach stehst, deine Häscher - Stress in der Familie, Kontoauszüge, hygienisch bedenkliche Baguettes von einem Strandkiosk - haben deine Spur verloren. Wenn One Floor Below von Radu Muntean (Tuesday, After Christmas) ein Bach ist, dann lässt sich An von Naomi Kawase (Still the Water) am ehesten als vermeintlich klarer Bergsee beschreiben. Je weiter du zu seinem Mittelpunkt vordringst, desto zäher gestaltet sich der miefige Morast, in dem du steckenbleibst. Am zweiten Tag des Festivals in Cannes eröffnete Kawases An die Sektion Un Certain Regard, die seit 1978 parallel zum Wettbewerb das Weltkino versammelt, oft mit Erstlings- oder Zweitlingsfilmen. In den letzten Jahren wurden hier unter anderem Höhere Gewalt, Halt auf freier Strecke und Der Fremde am See ausgezeichnet. Sollte An das Festival de Cannes mit einem Preis verlassen, dann den für das beste Essen im schlechtesten Film.

Wenn du also in dem Morast feststeckst, was tun? Umkehren? Bis zum anderen Ende des Sees durchhalten? Per Satellitentelefon einen Hubschrauber rufen und dich herausziehen lassen? Ich saß jedenfalls in An, dem zweiten Film des Tages, und habe überlegt, rauszugehen. Morastige Bergseen sind in der Regel die Filme, die ab einem bestimmten Punkt unrettbar verloren sind. Naomi Kawase, beileibe keine Novizin im Festivalgeschäft, eröffnet ihren Film als vergnüglich-sanfte Annäherung zwischen einer älteren Dame und einem introvertierten Koch. Sie weiß, wie man die perfekte An herstellt, eine Paste aus roten Bohnen, er verkauft Dorayaki, ein Süßgebäck, dessen integraler Bestandteil An ist. Eine Mischung aus Tampopo und Nokan - Die Kunst des Ausklangs in Pastellfarben ist das zunächst, mit einer filmischen Hingabe an die traditionelle Herstellung der Bohnenpaste, die so manchen Kritikermagen grummeln lassen dürfte. Dann kommt die Lepra. Die Gebäcke schmecken supi, der mürrische Koch lächelt, ein süßes Kleinkind setzt Kawase als Garnierung obendrauf. Doch ach, jemand schüttet aus Versehen Bier über ein Kinderbuch. Dunkle Wolken ziehen am Drehbuchhorizont auf und ehe der Zuschauer An buchstabieren kann, kommt heraus, dass Omi an Lepra leidet, was den Kunden gar nicht behagt. Und der Film ist verloren. Im Nachfolgenden türmen sich die Gründe für diesen Niedergang auf: Wie sich die Erzähldynamik einer Lehrstunde über die Geschichte der Krankheit in Japan beugt; wie eine einfältige Symbolik den Film erstickt, um profunde Erkenntnisse vorzutäuschen. Es ist eben nie ein gutes Zeichen, wenn eine verschlossene Figur einen Kanarienvogel hält. Außer vielleicht der Regisseur heißt Jean-Pierre Melville.

Jedenfalls kündigen sich die vielen Gründe, aus An herauszugehen, an diesem frühen Punkt der Spielzeit an. Manche Filme besitzen gleich mehrere dieser Stellen, an denen sie fast kentern, The Tale of Tales zum Beispiel, reißen das Ruder aber immer wieder um. Bei anderen ist das Kentern Prinzip und Attraktivitätsmerkmal Nummer 1. Wieder andere fallen so aus wie der zweite Un Certain Regard-Film des Tages. Radu Muntean, der neben Filmemachern wie Cristian Mungiu (4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage) und Cristi Puiu (Der Tod des Herrn Lazarescu) zur Neuen Welle des rumänischen Kinos gezählt wird, hat mit One Floor Below einen verstörenden Alltagsthriller ohne klassische Spannungsmomente gedreht. "Held" Patrascu führt mit Frau, Kind und Hund ein gutes Leben. Misstöne produzieren höchstens zwei liierte Nachbarn. Im Treppenhaus hört er einen Streit, einen Schlag, sieht beide - und geht weiter. Er will sich aus den Problemen anderer heraushalten. Bald darauf wird die Nachbarin tot aufgefunden. Aber Patrascu erzählt der Polizei nichts von seinem Erlebnis. Er will sich ja aus den Problemen anderer heraushalten. Bis der potenzielle Mörder seine Nähe sucht. So bemüht sich der Normalo Patrascu, die selbst verschuldete Unordnung in seinem Leben in Bahnen zu lenken, geht Konzessionen ein, um bloß nicht mit der beiderseitigen Schuldfrage konfrontiert zu werden. Darsteller Teodor Corban ist dabei der Fixpunkt eines Films, der jeder seiner Mikro-Reaktionen die selbe Aufmerksamkeit schenkt wie andere Thriller den wildesten Twists. Wenn der Jedermann schließlich unter der wachsenden Spannung zu bersten droht, versinken Corbans joviale Züge in den Neonlichtern der Nacht. Wir können nicht umhin, ihm auch dahin zu folgen.

Les anarchistes ist im Grunde weder gut noch schlecht genug, um Gehirnschmalz für Gewässermetaphern aufzubringen. In dem Historiendrama spielt Tahar Rahim einen Undercover-Polizisten anno 1899, der sich in eine Gruppe von Anarchisten einschleust, darunter Adèle Exarchopoulos, die für Blau ist eine warme Farbe mit einer Goldenen Palme ausgezeichnet wurde. Im Rahmen der Semaine de la Critique, die parallel zum Festival Cannes stattfindet, wurde das dröge Revoluzzer-Drama präsentiert. In dem reden alle ständig von einem Feuer, ob nun das der Liebe, des Aufstandes oder des Weltuntergangs. Im drögen Blaustich einer noch drögeren Inszenierung der bourgoisen Labertaschen wird jeder Funke sogleich ertränkt.

Das Paradox Cannes zeigte sich am zweiten Festivaltag beim letzten Film Son of Saul in voller Blüte. Vor dem Palais drängeln sich Schaulustige, Touristen, Fotografen und echte Träumer, die in Anzug und Fliege mit Schildern um "Invitations" für Premieren bitten. Popmusik quillt aus den Lautsprechern rund um den Roten Teppich, vor dem sich ein Lindwurm schwarzer Limousinen niedergelassen hat. Da gehst du durch, hinein in die Presse-Schlange, und schließlich ins Kino, um mit 1068 anderen einen zweistündigen Holocaust-Film von Laszlo Nemes zu sehen. Der Regieassistent von Béla Tarr hat es mit diesem Spielfilmdebüt in den Wettbewerb geschafft und könnte mit einem der Hauptpreise abreisen. In einem Sog von Plansequenzen begleitet die Kamera den jüdischen Gefangenen Saul, der in einem Sonderkommando im Krematorium von Auschwitz-Birkenau Ankömmlinge in die Gaskammern führt, ihre Kleidung sortiert, an den Türen wartet, bis die Schreie verhallen und hinterher den Boden schruppt. Derart eng klebt der Blick an den Schultern Sauls, dass die Gräuel überwiegend unscharf im Hintergrund bleiben. Es ist ein bewusster Schritt im Umgang mit der Darstellung des Undarstellbaren, die Ermordung von Millionen nicht als Spektakel einzufangen. Damit wird der fließbandartige Mord aus einer abgestumpften Perspektive gezeigt, die in entscheidenden Szenen per Schnitt aufgerüttelt wird. Gleichwohl ist der Wettbewerbsbeitrag wie ein Thriller aufgebaut, will Saul doch um jeden Preis einen ermordeten Jungen nach jüdischem Brauch begraben - mit einem Rabbi. So zieht der Film einen mit, entwickelt im ungeheuren Grauen eine nervenzehrende Spannung, während Saul die verschiedenen Stationen des industriellen Massenmordes abläuft. Nach zwei Stunden spuckt dich dieser reißende Filmstrom aus. Draußen werden neue "Invitation"-Schilder herumgewedelt, aus den Lautsprechern dröhnen die Beats durch die noch volleren Straßen und du willst überall sein, nur nicht hier.

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