Wildlife in Cannes: Paul Danos Regiedebüt zerbricht am Festival-Hype

10.05.2018 - 09:30 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
Wildlife mit Carey Mulligan läuft in der Woche der Kritik in Cannes
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Wildlife mit Carey Mulligan läuft in der Woche der Kritik in Cannes
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Hypes treffen längst nicht nur Blockbuster, gerade im Festivalbereich scheint der Hype mittlerweile lebenserhaltend. Wildlife, das Regiedebüt von Paul Dano, das in Sundance lief, ist ein gutes Beispiel dafür.

Der festivalindustrielle Komplex ist ein sonderbares Ding. Alle paar Wochen oder Monate treffen sich Hunderte bis Tausende Journalisten an einem Ort. In der Sonne, im Schnee, im Berliner Grau sammeln sie sich täglich mehrmals in einem Lindwurm, der ins Kino kriecht, es sich gemütlich macht und nach zwei, vier oder acht Stunden wieder Tages- oder Laternenlicht erblickt. Da zerstäubt er plötzlich in alle Winde bzw. Hotelzimmer und Apartments. Nichts ward mehr gesehen von seinen koffeinbetriebenen Zellen - bis zum nächsten Screening. Beim Festival Cannes sind es dieses Jahr 4000 Besucher mit Presseakkreditierung, die sich einreihen, um ihrem Teil der Welt davon Kunde zu geben, was sie gesehen haben. Hypes werden hier geboren, Monate bevor die betroffenen Filme reguläre Kinostarts feiern. Wildlife von Paul Dano mit Carey Mulligan und Jake Gyllenhaal befindet sich gerade im ersten Viertel seiner Hype-Laufbahn. Im Januar feierte der Film beim Independentfestival Sundance Premiere, das den Hype in den 90er Jahren perfektionierte, lange vor den sozialen Medien. Nun gastiert Wildlife in der Woche der Kritik in Cannes.

Wildlife springt von Sundance auf Cannes über

Sundance ist sowas wie die Ursuppe des Festival-Hypes, wenn auch die Geschichte der Filmfestivals natürlich viel weiter zurückreicht. Es war nicht zufällig der verschneite Ort in dein Bergen, an dem der Kult um Blair Witch Project seinen Anfang nahm. Mit dem Boom des amerikanischen Independent-Films erhielt das Festival in Park City, Utah enorme Bedeutung als Startpunkt für das Marketing von Filmen mit kleinem Budget, wenigen Stars und ohne CG-Dinosaurier. Was beim Budget für TV-Spots und ganzseitigen Zeitungsanzeigen fehlte, sollte mit ekstatischem Kritikerlob wieder hereingeholt werden. Als Wegzehrung für den Marsch ins Kino und vielleicht sogar zum Oscar.

Die Boomjahre liegen mittlerweile zwei Jahrzehnte zurück, Sundance bleibt in der Außenwirkung trotzdem das überschwänglichste aller großen Festivals. Anders als in Cannes hört man selten von der Unzufriedenheit, stattdessen wechselt eine ekstatische Lobhudelei die nächste ab. Je kleiner die Filme, so das Gefühl, desto gewaltiger müssen die Adjektive ausfallen, um sich Gehör zu verschaffen. Wenigen Beiträgen gelingt es, diese Tonlage bis zum Kinostart aufrechtzuerhalten, zuletzt etwa Call Me by Your Name, Get Out und Der Babadook. Die meisten anderen allerdings verschwinden entweder ein paar Monate später im Neflix-Katalog oder werden von der differenzierten Post-Festival-Kritik zurechtgestutzt. Für mich ist ein Sundance-Hype mittlerweile vor allem ein Warnsignal, was allerdings auch auf die tendenziell unerträgliche Einförmigkeit vieler US-Independentfilme zurückzuführen ist.

Wildlife

Als im Januar die ersten Reaktionen auf Wildlife erschienen, wähnte man Paul Dano schon auf der Bühne des Kodak Theatres. Ein kleines Kritiken-Aperitif gefällig? "Stunning." "Extraordinary." "Career-best." "Revelation." "Brilliance." "Fantastic." "Gorgeous." "Incredible." Das ganze Blabla um subjektive Filmbetrachtung einmal beiseite geschoben, sei hier vermerkt: Wildlife ist weder stunning noch brilliant. Die Sundance-Reaktionen bieten zwar einen Quell an Poster-Zitaten, sie zimmern jedoch ein Einfalltor für Enttäuschung, sobald die Kritiker im Rest des Landes und der Welt den Film sehen. Kritiker, die in der Regel mehr als eine Stunde Zeit haben, um über einen Film nachzudenken, bevor die Tasten knattern. Dass Kritiker im Rest des Landes den Film überhaupt sehen, wäre ohne diesen Hype andererseits nicht selbstverständlich - ebenso wie die Tatsache, dass er in der Woche der Kritik in Cannes gezeigt wird. Einen Teufelskreis könnte man das nennen, aber das klingt zu dramatisch für das Regiedebüt eines etablierten Schauspielers, dessen Karriere nicht von diesem einen Film abhängt.

Das Internet belohnt indes Versuche, Leser mit möglichst aufregenden Überschriften aus dem Scrollen zu reißen. Bei Filmen ohne Franchise-Anbindung oder Mega-Stars ist es eine Notwendigkeit. Auch hier in Cannes. Auch hier in diesem Tagebuch, zumindest manchmal. Ich kann schließlich nicht jede Überschrift mit Kristen Stewart aufziehen (nur jede zweite).

Wildlife sieht aus wie der Instagram-Account eines Architektur-Liebhabers

Und wie ist nun Wildlife? Er zeigt vor allem, was für einen Unterschied ein Stativ machen kann. In seinem Regiedebüt setzt Paul Dano zusammen mit Kameramann Diego García zunächst auf ruhige Tableaus des ausgehenden 50er-Jahre-Lebens, bevor sich in der zweiten Hälfte eine Handvoll Schwenks ins Drama schleicht. Denn: Es wird emotional. Die unterkühlte Distanz irgendwo zwischen Edward Hopper und gehobener Street Photography wird in Wildlife auch dann nicht abgelegt, als ein Feuer die Familie um Joe (Ed Oxenbould aus Shyamalans The Visit) zu zerfressen droht. Dano arbeitet hier mit seinem Prisoners-Co-Star Jake Gyllenhaal zusammen, der den Familienvater gibt. Gyllenhaal bewegt sich mit einer steifen Körperhaltung durchs Bild, als hätte man einen Mann in einen Milchkarton gequetscht. Wegen einer Lappalie verliert der Vater seinen Job in einem Country Club in Montana, doch die Chance ihn zurückzukriegen schlägt er wegen seines gekränkten Stolzes aus. Stattdessen meldet er sich für einen Hungerlohn für die Brandbekämpfung in den am Horizont qualmenden Wäldern. Für Ehefrau Carey Mulligan beginnt nach einem kurzen Höhenflug weiblicher Selbstbestimmung ein Absturz ins Würdelose: Sie begeht Ehebruch mit einem reicheren Mann mit dickem Bauch und schütterem Haar (auweia).

Das Drehbuch von Zoe Kazan und Paul Dano ist sichtlich bemüht, die Schuld am Zerbrechen der Ehe beiden aufzulasten. Dabei scheitert es grandios, auch weil Mulligan in einem dauerhaft unter Strom stehenden Register zu spielen und therapeutische Dialoge mit ihrem Sohn auszutauschen hat, die der repressiven Postkarteninszenierung des Jahres 1960 diametral entgegenstehen. Wie ein Carol-Imitat wirkt das manchmal, nur ohne Nuancen und Todd Haynes. Ein Stativ, ein paar Instagram-taugliche Einstellungen machen aber noch keinen Stil, zumindest keinen, der der emotionalen Welt seiner Figuren oder wenigstens des Zuschauers etwas hinzufügt. Wildlife mit Handkamera wäre nur ein flaches 08/15-Drama aus Sundance. So sieht er ganz hübsch aus. Schade, dass man ihn nicht liken kann.

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